AZRAEL
einfach weg.«
Dem konnte Bremer nur zustimmen. Sie waren noch bis in die frühen Morgenstunden in Löbachs Wohnung geblieben, und es war ihm noch nie so schwergefallen, eine Nachtschicht durchzustehen.
Die Sache machte ihm mehr zu schaffen, als er zuzugeben bereit war - auch sich selbst gegenüber.
Bremer hob die Hände vor das Gesicht, um ein Gähnen zu kaschieren, das er nicht ganz unterdrücken konnte. Er ha t te kaum geschlafen, selbst als er schließlich nach Hause und ins Bett gekommen war. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar«, begann er, »aber ich -«
»Sie fragen sich, was ich eigentlich von Ihnen will«, unterbrach ihn Sendig. »Und was zum Teufel ich hier zu suchen habe - in Ihrer Wohnung, unangemeldet, und noch dazu, wo Sie krankgeschrieben sind und selbst unabhängig davon jetzt eigentlich dienstfrei hätten.«
Damit hast du verdammt recht, dachte Bremer, besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können. L aut sagte er: »Wissen Sie mittlerweile, was in Löbachs Kühlschrank war?«
Sendig hob die Schultern, warf einen fragenden Blick auf die Kaffeekanne auf dem Tisch und schenkte sich den benutzten Becher ein, als Bremer nickte. Er nippte an seinem Kaffee und verzog anerkennend die Lippen.
»Und?« fragte Bremer.
»Nichts Außergewöhnliches. Kokain. Ganz gewöhnliches Kokain. Löbach scheint ab und zu ein Nä schen voll genommen zu haben.«
»Kokain?« Bremer blickte ihn zweifelnd an. »Seit wann bewahrt man Kokain im Tiefkühlfach auf?«
Sendig zuckte abermals mit den Achseln. »Seit wann malt man seine Wohnung schwarz an, schnitzt sich den Namen eines alttestamentarischen Todesengels mit einem Steakmesser in die Brust und springt dann nackt vom Balkon?« gab er zurück.
»Alttestamentarischer Todesengel?«
»Wie Sie sehen - ich habe meine Hausaufgaben gemacht«, erwiderte Sendig. »Außerdem habe ich ein ziemlich gutes Lexikon zu Hause. Azrael ist der Name des biblischen Würge e ngels.« Er lachte kurz. »Löbach war wirklich verrückt.«
Bremer glaubte ihm kein Wort. Was immer in den Beuteln gewesen war, die sie in Löbachs Kühlschrank gefunden hatten, Koka in war es ganz bestimmt nicht. Kokain, das nach Marzipan roch?
»Bitte, Herr Kommissar«, sagte Bremer. »Ich habe wirklich Kopfschmerzen. Ich bin müde und -«
»Ich verstehe«, unterbrach ihn Sendig. »Ich gehe Ihnen auf die Nerven, und Sie fragen sich, was zum Teufel ich eigentlich von Ihnen will. Wenn es Sie tröstet - ich bin bisher nicht einmal nach Hause gekommen, von einem Bett ganz zu schweigen.«
Das zumindest stimmte offensichtlich. Sendig trug noch immer die vollkommen unpassende festliche Kleidung, mit der er am vergangenen Abend in Löbachs Apartment aufgetaucht war, nur daß sie jetzt einen vollkommen verknitterten und verdreckten Anblick bot. Sein Gesicht war übrigens genauso zerknautscht, was auch seine Behauptung zu beweisen schien, noch weniger Schlaf gefunden zu haben als Bremer. Bremers Mitgefühl hielt sich allerdings in Grenzen.
»Es gibt einen bestimmten Grund, weswegen ich mit Ihnen reden will«, fuhr Sendig fort. »Ich hätte es schon gestern abend getan, wenn nicht... etwas dazwischengekommen wäre. Es war wohl ein glücklicher Zufall, daß ausgerechnet Sie gestern nacht Dienst hatten, als Löbach auf die Idee kam, Superman zu spielen.«
»Hatte ich gar nicht«, maulte Bremer. »Ich war auf dem Weg zur Dienststelle. Meine Schicht war vorbei.«
»Ich sagte doch, ein glücklicher Zufall«, sagte Sendig, »über den ich sehr froh bin.«
Bremer schwieg. Seine Kopfschmerzen wurden stärker, und es erschien ihm viel zu mühsam, zu antworten. Außerdem traute er dem Braten nicht. Sendig war der unumstritten größte Widerling der Berliner Polizei. Wenn er freundlich war, dann war das allemal ein Grund, mißtrauisch zu sein - und sehr, sehr vorsichtig.
»Also gut, ich will ganz offen zu Ihnen sein«, fuhr Sendig fort, nachdem er eine Weile vergebens auf eine Antwort gewartet hatte. »Diese ganze Geschichte stinkt. Sie stinkt genauso zum Himmel wie damals bei Sillmann, aber diesmal werde ich nicht klein beigeben. Ich werde den Fall zurückverfolgen bis zu den Verantwortlichen, und dazu härte ich gerne Ihre Hilfe.«
»Meine Hilfe?«
»Ich brauche einen Mitarbeiter, auf den ich mich verlassen kann. Und dem ich nicht jeden Handgriff erklären muß, sondern der mitdenkt.«
»Davon haben Sie schätzungsweise zweihundertfünfzig im Präsidium«, antwortete Bremer. »Ich bin ein ganz normaler
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