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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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tun, als erkenne er sie nicht, und sie verlegen genug, das Spiel mitzuspielen und hastig in einem Taxi zu verschwinden. Mark wartete, bis es abgefahren war, ehe er selbst einen zweiten Wagen herbeiwinkte und auf dem Beifahrersitz Platz nahm, sehr zur Verstimmung des Fahrers übrigens, der mit demonstrativ zur Schau getragenem Unmut ein Sammelsurium aus Zeitungen, Papieren, Zigarettenschachteln und einem zerlesenen Stadtplan nach hinten schaufelte, damit er sich setzen konnte.
    »Wo soll's hingehen?«
    Mark fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und versuchte einen Moment lang vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken, ehe er seine Adresse nannte – eigentlich aus einem reinen Reflex heraus, nicht weil er wirklich nach Hause wollte. Er hatte Prein zwar versprochen, es zu tun, aber irgendwie hatte er sich die ganze Nacht hindurch erfolgreich davor gedrückt, wirklich darüber nachzudenken. Nach Hause... Was hieß das eigentlich? Die Adresse, die er dem
    Taxifahrer genannt hatte, war es jedenfalls nicht. Es war ein Haus in einer der vornehmeren Gegenden der Stadt, die Adresse, unter der er gemeldet war und wo er auch ein Zimmer hatte und den allergrößten Teil seines persönlichen Besitzes. Aber sein Zuhause war es nicht. Mark versuchte zwar noch eine Weile, sich gegen die Erkenntnis zu wehren, aber es blieb wohl dabei: Das einzig wirkliche Zuhause das er in den letzten Jahren gehabt hatte, war das Internat.
    »Ich habe es mir überlegt«, sagte er plötzlich. »Fahren Sie raus zum Institut.«
    Der Fahrer warf einen schrägen Blick auf das Taxameter, das wunderbarerweise bereits einen Fahrpreis von etwa acht Mark anzeigte, obwohl sie gerade erst losgefahren waren, dann auf seinen Fahrgast und fragte: »Was für ein Institut?«
    »Das St.-Eleonor-Stift«, antwortete Mark. »Ich weiß nicht, wie die Straße heißt.«
    »Die Klapsmühle, meinen Sie? Kein Problem. Ist aber ein ziemlich weiter Weg. Das wird nicht ganz billig.«
    Mark seufzte. Er mußte dringend etwas an seiner Aufmachung ändern. Allmählich wurde es lästig, jedermann und ständig beweisen zu müssen, daß er nicht so war, wie er aussah. Mit einer ärgerlichen Bewegung zog er seine Geldbörse heraus, entnahm ihr einen Fünfziger und reichte ihn dem Fahrer. »Das sollte wohl reichen. Und ich ziehe den Ausdruck Nervenklinik vor.«
    Der Mann strich den Geldschein ein und war klug genug, nichts mehr zu sagen, sondern sich zumindest für die nächsten Minuten ganz darauf zu konzentrieren, den Mercedes durch den einsetzenden Berufsverkehr zu manövrieren. Die Anzahl der Wagen, die auf der Straße waren, überraschte Mark. Er wußte, daß die Stadt sich verändert hatte und immer noch veränderte, aber die Schnelligkeit dieses Wandels v erblüffte ihn jedesmal. Sein ruppiges Auftreten hatte dafür gesorgt, daß der Fahrer nicht mehr versuchte, Kilometer zu schinden, sondern den kürzesten Weg zu ihrem Ziel einschlug, aber sie kamen trotzdem kaum von der Stelle. Andererseits war er bisher auch noch nie zu dieser Uhrzeit hier angekommen, sondern meistens an einem Samstag- oder Sonntagabend, an dem die Straßen einen radikal anderen Anblick boten. Vielleicht veränderte sich seine Umwelt gar nicht immer schneller, sondern er hatte nur aufgehört, diese Veränderungen wahrzunehmen.
    Er sah auf die Uhr. Wenn Prein Wort gehalten hatte, dann wußte sein Vater noch nicht, daß er in der Stadt war, sondern würde es in frühestens zwei oder drei Stunden erfahren. Mark hätte es im Grunde gleich sein können, aber das war es nicht. Wenn sein Vater wußte, daß er in der Stadt war, ohne direkt nach Hause zu kommen, dann würde er auch wissen, wo er war - und das machte einen großen Unterschied. Mark war nicht oft im St.-Eleonor-Stift, aber jedesmal, wenn er es tat, war ihm der Unterschied deutlicher aufgefallen: Irgend etwas war anders, wenn sein Vater wußte, daß er dort war.
    Der Verkehr nahm ein wenig ab, als sie aus dem Zentrum heraus waren, und schließlich fuhren sie auf die Stadtautobahn. Zwanzig Minuten später bog das Taxi von der Straße ab und rollte, langsamer werdend, die Zufahrt des Stifts hinauf, um schließlich direkt vor dem Haupteingang zu halten.
    Ein banges Gefühl begann sich in Mark breitzumachen. Er fühlte sich nie gut, wenn er hierherkam, das tat niemand. Und es war eine der großen Absurditäten von Orten wie diesem: Sie dienten dem erklärtermaßen einzigen Zweck, Menschen zu helfen und Leid zu lindern, und doch riefen sie bei

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