AZRAEL
plötzlich wurde ihm bewußt, daß die beiden Pfleger, die an einem Tisch am anderen Ende des Raumes saßen, schon seit einer geraumen Weile zu ihnen herüberblickten. Zum einen war ihm das peinlich, zum anderen wußte er, daß es hier sehr strenge - und sicher berechtigte - Vorschriften gab, was das Verhältnis des Personals zu den Patienten und deren Anverwandten anging. Das St.-Eleonor-Stift war eine der teuersten Privatkliniken der Stadt, wenn nicht des Landes. Niemand, der hierherkam und einen Verwandten besuchte, lebte von der Sozialhilfe, und der Institutsleitung war sicher bewußt, wie groß die Verlockung für eine junge Schwester oder einen gutaussehenden Pfleger sein mochte, sich einen Millionärssohn oder eine reiche Erbin zu angeln, und für einen ganz kurzen Moment kam ihm ein ketzerischer Gedanke: nämlich der, ob nicht ganz genau das der Grund war, weswegen Schwester Beate sich plötzlich so sehr für ihn interessierte.
Sofort wurde ihm klar, daß dieser Verdacht nicht nur absurd, sondern auch boshaft und ungerecht war. Sie hätte schon verdammt schnell schalten und außerdem ein ziemlich berechnendes Biest sein müssen, um so schnell zu reagieren. Und irgend etwas sagte ihm, daß keines von beidem zutraf. Die Wahrheit war sehr viel simpler. Sie hatte einfach gesehen, in welchem Zustand er sich befand, und wollte ihn irgendwie trösten. Einfach nett zu ihm sein.
Mark hatte mit einem Mal das völlig aberwitzige Gefühl, daß sie seine Gedanken erraten haben mußte - und ein daraus resultierendes sehr schlechtes Gewissen. Er hatte heute wirklich ein einmaliges Talent, jedem, der den Fehler beging, freundlich zu ihm sein zu wollen, einen Tritt zu verpassen.
»Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte er, um seine Verlegenheit zu überspielen, aber auch aus wirklichem Interesse.
»Siebzehn - warum?«
Mark lachte. »Dann bin ich gerade mal ein Jahr älter. Warum lassen wir also das blöde Sie nicht? Ich heiße Mark.«
Wer baggerte jetzt eigentlich wen an? Zumindest war es ihm schon wieder gelungen, sie in Verlegenheit zu bringen. Möglicherweise hatte er mehr in ihren Blick und ihre vertraute Geste hineingedeutet, als darin war.
»Na ja - warum nicht?« sagte sie unsicher. »Eigentlich nennt mich sowieso jeder Schwester Beate. Kein Problem, das Schwester wegzulassen.«
»Du bist also seit drei Monaten hier?« fragte Mark.
Sie nickte verblüfft. »Stimmt. Aber woher - ?«
»Die Rühreier«, erinnerte Mark. »Ich bin ein aufmerksamer Zuhörer.«
»Das scheint mir auch so. Ganz im Gegensatz zu mir, fürchte ich. Sie sind – du bist - wirklich erst achtzehn?«
»Und auch das erst seit heute«, bestätigte Mark. Beates Überraschung wunderte ihn kein bißchen. Er sah sehr viel älter aus, als er war, was zum Teil an seiner Größe lag, zum weitaus größeren Teil aber an der Bitterkeit, die sich im Laufe der letzten Jahre tief in sein Gesicht eingegraben hatte. Und manchmal hatte er das Gefühl, nicht nur wie fünfundzwanzig auszusehen, sondern es auch schon seit mindestens zehn Jahren zu sein.
Er konnte sich kaum erinnern, jemals wirklich ein Kind gewesen zu sein. Sein Vater hatte ihm weit mehr angetan, als ihm sein Elternhaus und die Liebe seiner Mutter vorzuenthalten. Er hatte ihm seine Jugend gestohlen. Er war nicht erst heute morgen erwachsen geworden, sondern an dem Tag, an dem er ins Internat gekommen war, und das auf eine Art, die sehr bitter gewesen war.
»Heute?«
Er nickte. »Ich habe heute Geburtstag. Seit heute bin ich achtzehn. Ein richtiger, vollwertiger Mensch.«
»Na, dann herzlichen Glückwunsch!«
Mark schnaubte. »Da gibt es nicht viel zu beglückwünschen, fürchte ich«, sagte er. »Ich habe schon angenehmere Tage erlebt.«
»Wieso?«
Die Frage brachte ihn in Verlegenheit. »Ich schätze, ich habe ...ziemlichen Mist gebaut«, gestand er. »Ich war wohl...«
Was? Ein bißchen vorschnell? Ein klitzekleines bißchen dumm? Er hob die Schultern und schloß nach einer hörbaren Pause: »Ich habe einen Fehler gemacht.«
»Aber Sie wollen nicht darüber reden.«
» Du « korrigierte er sie. »Nein, das stimmt nicht. Nur jetzt nicht. Noch nicht.« Dabei stimmte das gar nicht. Wenn überhaupt etwas, dann hatte ihm dieses Gespräch mit Beate eines klargemacht: Er war hierhergekommen, um zu reden. Vielleicht nicht einmal mit seiner Mutter. Aber er hatte das, was er ihr gesagt hatte, einfach irgend jemanden erzählen müssen - bevor er es seinem Vater sagte.
»Vielleicht später«,
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