AZRAEL
zur Treppe. Sie versuchte nicht noch einmal, ihn zurückzuhalten, sondern wandte sich dem Fahrer zu, und Mark hätte sowieso nicht auf sie gehört. Sicher hatte sie recht: Sein Vater war kein besonders duldsamer Mann, und es war bestimmt nicht sehr klug, ihn zu stören, falls er geschäftlichen Besuch hatte. Mark war auch nicht daran gelegen, ihn noch mehr zu reizen - aber er hatte noch weniger Lust, jetzt hier zu warten, wie ein Schüler, der einen Termin bei seinem Direktor hatte, um sich einen Rüffel abzuholen. Außerdem war er nicht sicher, ob er später überhaupt noch den Mut haben würde, seinem Vater gegenüberzutreten. Gestern abend hatte Prein sicherlich übertrieben, aber jetzt war er genau in der Stimmung, die er ihm da unterstellt hatte - nervös, erregt und vollkommen übermüdet.
So schnell, wie er gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, lief er die Treppe hinauf und steuerte die Bibliothek an, die seinem Vater zugleich als Arbeitszimmer diente. Die Tür war nur angelehnt, und er konnte die Stimmen seines Vaters und mindestens zweier weiterer Männer hören. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber der Klang der Unterhaltung schien ihm nicht geschäftlich, ja nicht einmal wirklich höflich. Vielleicht war dort drinnen kein wirklicher Streit im Gange, aber zumindest doch die Vorstufe dazu.
Als er die Hand nach der Türklinke ausstreckte, klingelte das Telefon. Er konnte hören, wie sein Vater abhob und sich meldete, dann sagte er: »Für Sie.«
Mark betrat die Bibliothek im gleichen Moment, in dem der Besucher den Telefonhörer entgegennahm und sich meldete, und der Anblick, der sich ihm bot, war so unerwartet, daß er mitten im Schritt stehenblieb und überrascht die Augen aufriß.
Sein Vater saß hinter dem wuchtigen Schreibtisch, der vor dem Fenster aufgebaut war, und trug noch immer einen seidenen Hausmantel, Pantoffeln und Pyjamahosen, obwohl es bereits nach zehn war. Seine Frisur war wirr, als hätte er statt eines Kamms die gespreizten Finger benutzt, und er rauchte - wenn er sich in den vergangenen sechs Monaten nicht radikal verändert hatte, ein Zeichen höchster Erregung. Und seine Besucher boten ein kaum weniger auffälliges Bild. Beide sahen ungefähr so frisch und ausgeruht aus, wie Mark sich fühlte, und er schätzte beide auf Anfang fünfzig - aber damit hörten ihre Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Der Mann am Telefon trug einen Trenchcoat, dem man auf hundert Meter ansah, daß er aus einem Designerladen stammte und ein mittleres Vermögen gekostet haben mußte, und darunter einen offenbar maßgeschneiderten Anzug. Sein Haar war streng zurückgekämmt und begann sich an den Schläfen deutlich zu lichten, der Gesichtsausdruck hatte etwas Verbissenes.
Der andere schien das genaue Gegenteil. Er hatte dunkles, sehr volles Haar und einen gleichfarbigen Schnauzbart, der eine Spur zu lang war, um noch modisch zu wirken, so, wie er auch schätzungsweise zwanzig Pfund zuviel auf den Rippen hatte, um wirklich noch sportlich auszusehen. Sein Gesicht wirkte hart, aber trotzdem auf eine schwer zu beschreibende Weise freundlich - und er trug die grüne Uniform eines Schutzpolizisten. Polizei? Hier? Hatte sein Vater Ärger?
»Mark!« sagte sein Vater. Er klang eher unwillig als überrascht. »Wo bist du gewesen?«
Ja, dachte Mark, das war genau die Begrüßung, wie er sie erwartet hatte - vor allem im Ton. Aber er beherrschte sich. Im Moment war er noch zu verblüfft, um überhaupt zu reagieren. »Ich hatte... noch zu tun«, sagte er ausweichend. »Guten Morgen.«
Er ließ absichtlich offen, ob die Begrüßung nun allen im Raum oder nur seinem Vater galt. Sein Vater antwortete auch gar nicht darauf, sondern sah ihn nur aufmerksam an, während er mit der linken Hand einen Aktenhefter schloß, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag und offenbar eine ganze Anzahl großformatiger Schwarzweißfotos enthielt; was sie zeigten, konnte Mark aus seiner Position heraus nicht erkennen. Es spielte im Moment auch keine Rolle. Der Polizeibeamte erwiderte Marks Gruß, während der andere - vermutlich ebenfalls ein Polizist, nur in Zivil - mit einem wortlosen Nicken reagierte und sich ansonsten auf das konzentrierte, was er am Telefon hörte.
Mark schob die Tür hinter sich zu und trat zögernd näher. »Die Polizei im Haus?« fragte er. » Ist irgend etwas… passiert?«
»Ja, so könnte man es nennen«, sagte sein Vater. »Aber es hat nichts mit uns zu tun.« Er musterte die beiden
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