AZRAEL
was.«
»Aber was soll denn das?« schnappte Mark. »Das ist... idiotisch!«
»Vielleicht«, sagte Petri. »Möglicherweise bin ich nur ein alter Idiot, wer weiß? Trotzdem - erzähl mir irgend etwas. Du wirst dich doch erinnern. Du hast bestimmt Freunde gehabt, ein Lieblingsspielzeug, irgendeine Serie im Fernsehen, die du besonders gemocht hast... irgend etwas.«
»Was soll ich schon erzählen?« fragte Mark verwirrt. »Ich... ich war hier.« Plötzlich raste sein Herz wieder, und er schloß die Hände so fest um den Cognacschwenker, daß das Glas knackte, nur damit Petri und sein Vater nicht sahen, wie sie zitterten. Er begriff noch immer nicht, worauf Petri hinauswollte - aber das änderte nichts daran, daß ihn die Fragen des Arztes regelrecht in Panik versetzten. Stockend fuhr er fort: »Ich habe hier gelebt. Mit... mit meinem Vater und meiner Mutter und... und Marianne. Da gibt es nichts Besonderes zu erzählen.«
»In zwölf Jahren? Es ist nichts passiert, woran du dich erinnerst? Gar nichts? Das kann nicht dein Ernst sein.«
Mark starrte den Arzt an. Er wollte lachen, einfach hysterisch losschreien oder ihn anbrüllen, aber er konnte nichts von alledem. Seine Gedanken überschlugen sich schier. Das war lächerlich. Grotesk. Wieso sollte er sich nicht an seine Jugend erinnern können? Er hatte hier gelebt, mit seinen Eltern und Marianne, und er kannte jeden Quadratzentimeter dieses Hauses, jedes einzelne Möbelstück, jedes Buch auf den Regalen. Er erinnerte sich an sein Leben hier, die Schule, an Mariannes Essen und die Fernsehabende mit seiner Mutter, die Weihnachtsfeiern und seine Geburtstage.
Und sonst an nichts.
Es war nicht etwa so, daß seine Erinnerungen erst mit seinem Umzug ins Internat begannen und davor ein schwarzes Nichts gewesen wäre. Es war alles da - aber die Details fehlten. Es war, als wäre sein ganzes Leben in einem Buch niedergeschrieben worden, das er nur durchgeblättert, nicht aber wirklich gelesen hatte, so daß er zwar die Handlung, nicht aber das eigentliche Leben zwischen den Zeilen mitbekommen hatte. Er wollte sich erinnern, mit aller Gewalt.
Aber er konnte es nicht.
Da war nichts, woran er sich erinnern konnte.
»Was... was bedeutet das?« fragte er stockend.
Petri atmete hörbar ein. »Weißt du, was man unter dem Wort Amnesie versteht? Sicher, du weißt es. Jedermann weiß so etwas heute.«
»Gedächtnisverlust«, antwortete Mark überflüssigerweise. Er versuchte zu lachen. »Wollen Sie mir gerade weismachen, daß ich unter einer Art Amnesie leide.«
»Einer ganz speziellen Art, ja«, bestätigte Petri. »Es gibt die verschie densten Ursachen für einen Gedäc htnisverlust, und er ist nicht immer total. Meistens verschwindet er nach ein paar Stunden oder allerhöchstens Tagen von selbst wieder. Aber manchmal dauert es auch Jahre, und manchmal kehren die Erinnerungen auch nie vollständig zurück.«
»Und manchmal hilft jemand nach«, fügte sein Vater ganz leise hinzu.
»Wie... bitte?« fragte Mark.
Er starrte abwechselnd seinen Vater und Petri an, bekam aber von keinem der beiden eine Antwort. Sein Vater blickte weiter starr ins Leere, während Petri jetzt noch betroffener aussah, irgendwie aber zugleich auch entschlossener, auf eine grimmige, ungute Art.
»Was soll das heißen?« fragte Mark.
Tief in ihm begann eine furchtbare Ahnung aufzukeimen - nein, keine Ahnung. Es war Wissen, klares, zweifelsfreies Wissen, das irgendwo in ihm vergraben war, unendlich tief und so sorgsam eingesperrt, daß er es selbst jetzt noch nicht wirklich erkennen konnte. Aber es war da. Eingesperrt, aber da. Nur war er mit einem Male gar nicht mehr sicher, ob er es wirklich befreien wollte. Was hatte Petri gesagt? Die Wahrheit wird dir nicht gefallen?
»Dein Vater sagt die Wahrheit«, sagte Petri schließlich. »Manchmal hilft jemand nach, um zu verhindern, daß die Amnesie zu schnell nachläßt.«
»Jemand?«
»Ich«, gestand Petri. »Ich war damals der Arzt, der die Diagnose gestellt hatte. Und ich habe auch dafür gesorgt, daß du dich nicht erinnerst, jedenfalls nicht gleich.« Er hob die Hand, als Mark widersprechen wollte. »Ich weiß, was du sagen willst, aber du irrst dich. Es gibt durchaus Mittel und Wege, ganz bestimmte Erinnerungen aus dem Gedächtnis eines Menschen zu löschen. Ziemlich einfache sogar. Man spricht nur nicht gerne darüber.«
»Erinnerungen woran « bohrte Mark.
»An das, was damals geschehen ist«, antwortete sein Vater. Er atmete hörbar ein,
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