Azrael
Gedanken lesen, ihren Geist mit diesen durchdringenden Augen in sich einsaugen. Das war zu viel. Und doch … Obwohl sie sich dagegen sträubte, weil er so intensive Gefühle in ihr weckte, wollte sie es gerade deswegen.
Wie eine Motte wurde sie zum Licht gelockt.
Als der Priester um die Ringe bat, schaute Azrael endlich weg. Mit einer geschmeidigen Geste nahm er zwei massive Goldringe aus der Innentasche seines Smokingjacketts und gab sie dem attraktiven Bräutigam. Gabriel grinste ziemlich irdisch und wandte sich seiner Braut zu.
Fasziniert beobachtete Sophie, wie er ihrer Freundin den breiten Reif an den schmalen Finger steckte. Im Mond- und Kerzenlicht funkelte die goldene Gravur keltischer Ornamente. Der Ring passte Juliette perfekt, glich einem endgültigen, unauslöschlichen Brandzeichen, und Sophie stellte sich vor, Azrael würde sie mit einem solchen Ring an sich binden.
Und dann blinzelte sie. Heftig hämmerte ihr Herz gegen die Rippen. Beinahe spürte sie das metallische Gewicht an ihrem Finger, Azraels warme Berührung an ihrer Hand. Woher zum Teufel kam diese Vision? Aus dem Nirgendwo, glasklar, und jetzt ließ sie sich nicht verscheuchen.
Sophie fühlte brennende Schamröte in ihren Wangen. Wenn er wüsste, woran sie dachte …
Verwirrt merkte sie, dass die Zeremonie beendet war. Die Dudelsackpfeifer spielten »Amazing Grace«, die Braut und der Bräutigam küssten sich. Danach sagte der Geistliche noch ein paar gälische Worte, die Juliette anscheinend verstand, und Gabriel führte sie den Mittelgang hinunter.
Es war die Nacht des Vollmonds, der das schöne Schloss in bläulich weißes Licht tauchte. Zwischen den steinernen Säulen und hoch oben von den Zinnen flatterten Fähnchen und Bänder, tief unten umspülten die sanften Wellen der Ebbe die Felsen, Möwen riefen, Rosen- und Lavendeldüfte erfüllten die milde, für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Luft. Während die Hochzeitsgäste – hauptsächlich Leute von Gabriels schottischer »Heimatinsel« Harris – die Ursache des angenehmen Wetters nicht kannten, wusste Sophie Bescheid. Das verdankten sie Eleanore Granger, dem ersten Sternenengel, den die vier Lieblingserzengel des Alten Mannes gefunden hatten.
Eleanore, Uriels Seelengefährtin, besaß ähnliche Talente wie Juliette, was Sophie immer noch zu begreifen versuchte. Bis zu einem gewissen Grad konnten beide Frauen das Wetter kontrollieren, mittels telekinetischer Fähigkeiten Gegenstände herumwerfen und Feuer manipulieren, wo es bereits existierte. Vor allem aber verstand sie etwas von der Heilkunst. Die Gabe, Wunden und Krankheiten mit einer einzigen Berührung zu kurieren, unterschied die Sternenengel von sämtlichen anderen übernatürlichen Geschöpfen auf dieser Welt. Auch das hatte Sophie ziemlich schnell akzeptieren müssen: Offenbar lebten nicht nur Erz- und Sternenengel inmitten ahnungsloser Menschen, sondern auch andere überirdische, machtvolle Wesen.
Aber die konnten niemanden so schnell heilen und von Schmerzen befreien. Das vermochten nur die Sternenengel und Michael.
Mit diesen Erklärungen hatte Juliette ihrer Freundin einiges zugemutet. Zum Glück für Jules war Soph kaum zu erschüttern. Allzu gut erinnerte sie sich nicht an ihre frühe Kindheit. Aber was sie über diese kostbare Zeit wusste, bewahrte sie tief in ihrem Herzen. Nur sechs Jahre hatte sie mit ihren Eltern verbracht. Eine Woche vor ihrem sechsten Geburtstag waren sie bei einem Autounfall gestorben. Bis zu jenem Tag hatte Sophie in einem Paradies gelebt.
Ihre Mutter war Kuratorin im American Museum of Natural History in New York gewesen, ihr Vater Pilot. Wenn er unterwegs war, hatte Sophie ihre Mom zuweilen ins Museum begleitet. Dort erforschten sie außerhalb der Öffnungszeiten alte ägyptische Gräber, und die Mutter erzählte Geistergeschichten im Whale Room, wo ein blauer Wal hing.
Genevieve Bryce, Sophies Mom, war eine einzigartige, aufgeschlossene Frau gewesen. Nichts hatte sie für unmöglich gehalten. »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.« Dieses Shakespeare-Zitat hatte Sophie mehrmals von ihr gehört, eine der wenigen Bemerkungen ihrer Mutter, an die sie sich erinnerte. Für Genevieve waren Magie und Wunder keine Hirngespinste gewesen, sondern reale Möglichkeiten. Diesen Respekt vor einer Welt jenseits des menschlichen Wissens hatte sie in der kurzen gemeinsamen Zeit an ihre Tochter weitergegeben.
Glücklichweise hatten die
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