Azulamar: Der Erbe von Atlantis (German Edition)
existiert die Stadt Azulamar auf dem Grund des Meeresboden nun«, begann Alcatraz. »Es gibt niemanden mehr, der diese Zeiten erlebt hat – und doch haben wir die Geschichte weitererzählt. Sie lebte auf den Zungen derer, die sie weitererzählten – und die sich erinnern konnten, was noch
davor
war. Azulamar ist die neunte Stadt von insgesamt dreizehn auf dem Meeresgrund.«
Er machte eine Pause.
»Doch gewiss wird kein Marianer, der nicht in Nin’Atur lebt, sagen, es gäbe dreizehn Städte – für alle anderen gibt es nur zwölf, denn die Existenz von Nin’Atur ist gleichermaßen ein wohlbehütetes Geheimnis wie auch ein angeblicher Schandfleck auf dem blütenreinen Bild von Azulamar und den anderen elf Städten.
Dabei ist es gerade von Azulamar schändlich, uns zu verleugnen – doch was seit 500 Jahren Sitte ist, wird nicht mehr gebrochen werden. Ich habe diese Geschichte nicht oft erzählt, sie aber tausendmal gehört. Ich habe Marianer getroffen, so alt, dass es nur zwei Generationen vor ihnen passierte. Ich habe Dinge gesehen, die sich mit den damaligen Schicksalsbegebenheiten messen können.
Und ich habe gelernt zu fühlen, wann wieder Geschichte geatmet wird – und heute ist ein solcher Tag, denn die Prophezeiung steht kurz vor ihrer Erfüllung.«
Alcatraz deutete auf mich und im gleichen Moment ruhten alle Blicke auf mir – eine Tatsache, die ich eher beunruhigend fand. Zumal ich seine Worte noch nicht verstand. Warum mussten nur alle Marianer solche Dramatiker sein, wenn es um die Historie ging?
»Vor vielen Tausend und Abertausend Jahren wurde ein Verbrechen begangen: Hades, der Gott der Unterwelt, wollte seine Geliebte Persephone in die Unterwelt entführen, doch ihre Mutter, die von uns allen geliebte Demeter, versteckte sie auf einer Insel – Atlantis.
Anstatt sich dem Schicksal zu beugen, griff Hades zu den Waffen und riss in seiner Wut die ganze Insel hinab, wo sie im Meer des Poseidon versank.
Poseidon jedoch hatte Mitleid mit den unschuldigen Menschen auf Atlantis und gab ihnen Kiemen, damit sie fortan als seine Geschöpfe im Meer leben konnten.
Manche von ihnen erhielten durch die Tränen der Persephone magische Fähigkeiten, die ihnen erlaubten, das Wasser zu kontrollieren und seine Form zu verändern.
Doch dann fielen auch Tränen der Persephone auf die Erde, und aus ihnen wurden ebenfalls Steine, die jedoch eine ganz andere Wirkung hatten.
Demeter bereute nämlich bereits, Persephone auf Atlantis versteckt und somit das Verderben der Menschen dort bewirkt zu haben, und hauchte mit ihrem göttlichen Atem auch diesen Tränen besondere Fähigkeiten ein – die Kraft, die Erde zu beherrschen. Nur wenigen Marianern war diese magische Saat vergönnt, und noch weniger normalen Menschen. Niemals jedoch konnte man beide Saaten in sich tragen.
Bis auf eine Ausnahme!« Alcatraz drehte sich zu mir um.
»Die Götter sprachen damals eine Prophezeiung aus, an die sich die Marianer halten sollten, um eines Tages von ihrem abgeschiedenen Los erlöst zu werden. Das Joch, unter dem sie wandelten, sollte dann zerbrochen werden, sobald ein Geschöpf entstehen würde, eine Frau, die den Mut besaß, Meer und Land wieder zu vereinen und mit ihrer Kraft Atlantis nach oben zu holen.
Doch die Jahrhunderte vergingen und nichts geschah. Nach und nach geriet die Prophezeiung in Vergessenheit, nur einige wenige erinnerten sich noch wirklich an sie und an ihren Wortlaut.
Besonders die königliche Blutslinie von Atlantis, die sich bereits in acht Städte gespalten hatte, hatte keinerlei Interesse daran, eine Heldin aus ihren Reihen entwachsen zu sehen, die die Macht haben sollte, ihre ganzen Lebensumstände zu verändern. Jedem Marianer war damals schon klar, dass sich das Leben an Land ganz anders entwickelt hatte als unten in den acht Städten.
Mit diesem Gedanken im Sinn wurde die neunte Stadt gegründet, von einem Sprössling der königlichen Familie namens Dracion. Er baute die Regenbogenstadt Azulamar, inspiriert von seiner Frau Iris, deren Augen angeblich siebenfarbig gewesen sein sollen.
Sie selbst hatte die Kraft der Demeter, über die Erde verfügen zu können, und wünschte sich nichts weiter, als die Prophezeiung endlich wieder gewahrt zu wissen. Obwohl ihr Gemahl ihr versprach, in Azulamar die Prophezeiung lehren zu lassen, kam es nie dazu. Er brach sein Versprechen aus Angst, irgendwann nicht mehr König sein zu können. Um sich herum scharte er seine Gilde aus Wasserflüsterern, die es
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