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vermitteln, dass ich mich fragte, ob er vielleicht doch ein wenig recht hatte.
Das war, bevor ich Professor Ni über die asiatische Macht der Sanftmut sprechen hörte, bevor ich bei Gandhi über Satyagraha las und bevor ich mir Tiffanys strahlende Zukunft als Journalistin vorstellte. Überzeugung ist Überzeugung, haben mich die Jugendlichen aus Cupertino gelehrt, ganz gleich mit welcher Lautstärke sie zum Ausdruck gebracht wird.
TEIL III
Formen der Liebe und Arbeit für Introvertierte
KAPITEL 9
Introvertiert in einer extravertierten Welt
Wann man sich anpassen sollte – und wann nicht
Ein Mensch hat so viele gesellschaftliche Selbste, wie es verschiedene Personengruppen gibt, deren Meinung ihm wichtig ist. Gewöhnlich zeigt er jeder dieser verschiedenen Gruppen eine andere Seite von sich.
William James
Professor Brian Little, ehemaliger Psychologiedozent in Harvard und Preisträger der 3M Teaching Fellowship – manchmal auch als Nobelpreis der Hochschullehre bezeichnet –, ist Brillenträger, von kleiner und stämmiger Statur und liebenswürdigem Wesen. Er hat einen dröhnenden Bariton und die Gewohnheit, am Rednerpult herumzuwirbeln und in einen Singsang zu verfallen, während er nach Art eines Schauspielers alter Schule die Konsonanten betont und die Vokale dehnt. Man hat ihn als »Kreuzung aus Robin Williams und Albert Einstein« beschrieben, und wenn er einen Witz macht, der seinen Zuhörern gefällt, was oft der Fall ist, dann sieht er noch erfreuter aus als sie. Seine Seminare in Harvard waren immer überbelegt und endeten häufig mit stehenden Ovationen.
Im Gegensatz dazu scheint der Mann, den ich jetzt beschreiben werde, aus ganz anderem Holz geschnitzt zu sein: Er lebt mit seiner Frau in einem versteckt gelegenen Haus auf einem Grundstück von fast einem Hektar in den abgelegenen kanadischen Wäldern. Er bekommt gelegentlich Besuch von seinen Kindern und Enkelkindern, aber bleibt ansonsten für sich. Er komponiert in seiner Freizeit Musik, liest und verfasst Artikel und Bücher und schreibt Freunden lange E-Mails, die er »E-pistel« nennt. Wenn er geselligen Umgang pflegt, zieht er Zweierbegegnungen vor. Bei Partys tut er sich, so schnell er kann, mit jemandem zu einem ruhigen Gespräch zusammen oder entschuldigt sich damit, dass er »frische Luft schnappen« muss. Wenn er gezwungen ist, zu viel Zeit unterwegs oder in konfliktträchtigen Situationen zu verbringen, kann er krank werden.
Wären Sie überrascht zu erfahren, dass der Professor mit dem komödiantischen Talent und dieser Eremit, der ein Leben des Geistes führt, ein und dieselbe Person sind? Vielleicht nicht, wenn Sie bedenken, dass wir uns alle je nach Situation verschieden verhalten. Aber wenn wir zu solcher Flexibilität in unserem Verhalten imstande sind, ist es dann überhaupt sinnvoll, die Unterschiede zwischen Introvertierten und Extravertierten herauszuarbeiten? Ist die Vorstellung von Intro- und Extraversion selbst vielleicht eine zu platte Dichotomie: der Introvertierte ein weiser Philosoph, der Extravertierte ein furchtloser Anführer, der Introvertierte ein Poet oder Spitzenwissenschaftler, der Extravertierte ein Enthusiast oder Anführer einer Clique? Haben wir nicht alle ein bisschen von beidem?
Psychologen nennen das die »Person-Situation-Kontroverse«: Gibt es tatsächlich feste Persönlichkeitsmerkmale oder verändern sie sich je nach der Situation, in der ein Mensch sich befindet? Wenn Sie mit Professor Little sprechen, wird er Ihnen sagen, dass er trotz seiner öffentlichen Persona und seiner Auszeichnung als Hochschullehrer in Wirklichkeit ein waschechter, total melancholischer Introvertierter ist, nicht nur vom Verhalten, sondern auch von seiner Neurophysiologie her (bei dem in Kapitel 5 beschriebenen Zitronensafttest hatte er sofort Speichelfluss). Allem Anschein nach stellt er sich damit voll und ganz auf die »Person«-Seite der Kontroverse: Little glaubt, dass es feste Persönlichkeitsmerkmale gibt, die unser Leben tief beeinflussen, auf physiologischen Abläufen basieren und das ganze Leben über relativ stabil bleiben. Menschen mit dieser Ansicht haben große Fürsprecher: Dasselbe glaubten schon Hippokrates, Milton, Schopenhauer, Jung und in jüngster Zeit auch die Vertreter der funktionellen Magnetresonanztomografie und der Hautwiderstandstests.
Auf der anderen Seite der Kontroverse steht eine Gruppe von Psychologen, die als Situationisten bezeichnet werden. Der Situationismus besagt, dass
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