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schrieb ein Student über ihn. »Ich kann nicht einmal ansatzweise schildern, auf wie unendlich viele Weisen er mein Leben positiv beeinflusst hat.« Für Brian Little ist also die zusätzliche Anstrengung, die es ihn kostet, über seine natürlichen Grenzen hinauszugehen, dadurch gerechtfertigt, dass er sieht, wie sein zentrales persönliches Anliegen – den Funken des Interesses im Geist seiner Studenten zu entzünden – Früchte trägt.
Auf den ersten Blick scheint die Free-Trait-Theorie einem Grundgedanken unseres kulturellen Erbes zuwiderzulaufen, der uns heilig ist. Shakespeares oft zitierter Rat: »Dies vor allem: Sei dir selber treu« steckt tief in unserer philosophischen DNA. Viele Menschen fühlen sich unwohl bei der Vorstellung, sich eine »falsche« Persona zuzulegen, und sei es auch nur für kurze Zeit. Und wenn wir unserem Naturell zuwiderhandeln, indem wir uns einreden, dass unser Pseudoselbst wirklich ist, fühlen wir uns am Ende vielleicht ausgebrannt, ohne überhaupt zu wissen, warum. Das Geniale an Littles Theorie ist, wie elegant sie dieses Unbehagen löst: Ja, wir tun nur so, als seien wir Extravertierte, und ja, ein solch unechtes Verhalten kann moralisch zweischneidig (wenn nicht gar aufreibend) sein. Aber wenn es im Dienste der Liebe oder einer Berufung steht, dann tun wir genau das, was Shakespeare uns riet.
Wenn Menschen gut darin sind, mit freien Persönlichkeitsmerkmalen zu jonglieren, kann man manchmal kaum glauben, dass sie gegen ihr Naturell handeln. Professor Littles Studenten sind gewöhnlich völlig verblüfft, wenn er behauptet, er sei introvertiert. Aber Little ist weit davon entfernt, einzig in seiner Art zu sein; viele Menschen, besonders solche in Führungspositionen, bewegen sich auf einem bestimmten Level vorgespielter Extraversion. Mein Freund Alex, ein im Umgang mit Menschen gewandter Chef eines Finanzdienstleistungsunternehmens, erklärte sich einverstanden, mir ein ehrliches Interview zu geben, unter der Voraussetzung, dass seine Anonymität hundertprozentig gewahrt bliebe. Alex erzählte mir, dass er sich seine vorgespielte Extravertiertheit schon in der siebten Klasse angeeignet hatte, als er merkte, dass andere ihn ausnutzten.
»Ich war der netteste Junge, den man sich vorstellen kann«, erinnert sich Alex. »Aber die Welt war nicht dafür gemacht. Wenn man nur nett war, wurde man untergebuttert. Das wollte ich mir nicht antun. Ich fragte mich: Wie lauten hier die Spielregeln? Und es gab nur eine. Ich musste jeden in die Tasche stecken. Wenn ich ein netter Kerl sein wollte, musste ich das Sagen in der Schule haben.«
Aber wie sollte das gehen? »Also lernte ich alles über Gruppendynamik, garantiert mehr als jeder andere«, sagte mir Alex. Er beobachtete, wie Menschen sprachen, wie sie sich bewegten, und studierte besonders die männlichen Dominanzposen, die sie einnahmen. Er passte seine Persona an, und dadurch konnte er im Innersten ein schüchterner, lieber Junge bleiben, ohne dabei ausgenutzt zu werden. »Ich dachte, ich muss mir alle Gemeinheiten aneignen, mit denen man jemanden fertigmachen kann«, sagt er. »Inzwischen bin ich fit für den Krieg, denn dann wird man nicht untergebuttert.«
Alex nutzte auch seine natürlichen Stärken. »Ich lernte, dass Jungen im Grunde nur eins im Kopf haben: Sie sind hinter Mädchen her. Sie kriegen sie, sie verlieren sie wieder, sie reden über sie. Ich hielt das für komplette Zeitverschwendung. Ich fand Mädchen wirklich sympathisch , und nur so kommt Nähe zustande. Statt also herumzusitzen und über Mädchen zu reden , lernte ich sie kennen. Ich hatte Beziehungen zu Mädchen und war außerdem gut im Sport, um die Jungs im Griff zu haben. Und ab und zu mal muss man jemandem eins draufgeben. Auch das habe ich gemacht.«
Heute hat Alex ein umgängliches und leutseliges Auftreten und pfeift fröhlich bei der Arbeit. Ich habe ihn nie mit schlechter Laune erlebt. Aber wenn man versucht, ihm bei einer Verhandlung in die Quere zu kommen, lernt man seine kriegerische Seite kennen, die er sich antrainiert hat. Und sein introvertiertes Selbst tritt zutage, wenn man sich mit ihm zum Essen verabreden will.
»Ich könnte es buchstäblich jahrelang ohne Freunde aushalten, abgesehen von meiner Frau und meinen Kindern«, sagt er. »Nimm uns beide. Du bist eine meiner besten Freundinnen, und wie oft reden wir letztlich miteinander? Wenn du mich anrufst! Ich sitze nicht gern in einer geselligen Runde. Mein Traum ist, mit
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