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humorvolle Einlage dort.
Der Vortrag war ein Erfolg – so sehr, dass er eingeladen wurde, jedes Jahr wieder einen zu halten. Aber die nächste Einladung, die das College aussprach, entsetzte ihn: Er sollte anschließend mit der obersten Garde zu Mittag essen. Little musste am Nachmittag noch einen weiteren Vortrag halten, und er wusste, dass anderthalb Stunden Small Talk ihn fertigmachen würden.
Rasch nach einer Ausrede suchend, erklärte er, dass er eine Leidenschaft für Schiffsbau habe, und bat seine Gastgeber, ob er stattdessen die Gelegenheit seines College-Besuchs nutzen dürfe, um die vorbeifahrenden Schiffe auf dem Richelieu River zu bewundern. Dann brachte er seine Mittagspause damit zu, mit anerkennender Miene am Flussufer spazieren zu gehen – und sich für seine Rede am Nachmittag zu regenerieren.
Jahrelang hielt Little Vorträge am College, und jahrelang ging er in der Mittagspause am Ufer des Richelieu River spazieren und pflegte sein angebliches Hobby – bis zu dem Tag, als das College auf ein neues Gelände fern vom Fluss umzog. Seines Vorwandes beraubt, griff Professor Little zu dem einzigen Rettungsanker, der ihm einfiel – der Herrentoilette. Nach jeder Vorlesung lief er in Windeseile auf die Toilette und verschwand in einer der Kabinen. Einmal erkannte ein Offizier Littles Schuhe unter der Tür und begann ein freundliches Gespräch. Also gewöhnte sich Little an, seine Füße an der Wand abzustützen, damit sie von außen nicht zu sehen waren. Zuflucht zu Toiletten zu nehmen ist ein überraschend verbreitetes Phänomen, wie Sie vermutlich wissen, wenn Sie zu den Introvertierten gehören. »Nach einem Vortrag bin ich in Toilettenkabine Nr. 9«, sagte Little einmal zu einem von Kanadas bekanntesten Talkshow-Moderatoren. »Und ich bin nach einer Talkshow in Kabine Nr. 8«, erwiderte der Moderator, wie aus der Pistole geschossen.
Sie fragen sich vielleicht, wie ein stark introvertierter Mensch wie Professor Little es schafft, so effizient Reden zu halten. Wie er sagt, ist die Antwort einfach und in einer neuen psychologischen Theorie zu finden, die er fast im Alleingang entwickelt hat, der sogenannten Free-Trait-Theorie . 3 Little glaubt, dass feste und freie Persönlichkeitsmerkmale koexistieren. Nach der Free-Trait-Theorie werden wir mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen – der Introversion beispielsweise – geboren und kulturell ausgestattet, aber wir können im Dienste von »wichtigen persönlichen Anliegen« wider unsere Natur handeln und tun es auch.
Introvertierte sind mit anderen Worten imstande, sich im Dienste einer für sie wichtigen Sache, für Menschen, die sie lieben, oder für irgendetwas, was sie hoch schätzen, wie Extravertierte zu verhalten. Die Free-Trait-Theorie erklärt, warum ein Introvertierter für seine extravertierte Frau eine Überraschungsparty organisiert oder sich an der Schule seiner Tochter in der Elternarbeit engagiert. Sie erklärt, wie es möglich ist, dass ein extravertierter Wissenschaftler sich in seinem Labor reserviert verhält, ein liebenswürdiger Mensch bei Geschäftsverhandlungen die Ellenbogen gebraucht und ein streitsüchtiger Onkel seine Nichte rücksichtsvoll behandelt, wenn er sie zum Eisessen einlädt. Wie diese Beispiele zeigen, ist die Free-Trait-Theorie auf viele verschiedene Umstände anwendbar, aber sie ist besonders relevant für Introvertierte, die unter dem Extravertiertenideal leben.
Nach Little steigt unsere Lebensqualität gewaltig an, wenn wir ein uns wichtiges persönliches Anliegen verfolgen, das wir für sinnvoll, umsetzbar und nicht übermäßig belastend halten und das von anderen unterstützt wird. Wenn jemand uns fragt: »Wie geht’s?«, geben wir vielleicht eine nichtssagende Auskunft, aber unsere wahre Reaktion hängt davon ab, wie gut es um unsere zentralen Anliegen steht.
Deshalb hält Professor Little, dieser vollendete Introvertierte, mit solcher Leidenschaft Vorlesungen. Wie ein moderner Sokrates liebt er seine Studenten zutiefst. Ihren Horizont zu erweitern und sich um ihr Wohlbefinden zu kümmern sind zwei seiner zentralen Anliegen. Als Little Sprechstunden in Harvard hielt, standen die Studenten im Flur Schlange, als hätte er Freikarten für ein Rockkonzert zu vergeben. Seit mehr als zwanzig Jahren bitten ihn seine Studenten, mehrere hundert Empfehlungsschreiben pro Jahr zu verfassen. »Brian Little ist der einnehmendste, unterhaltsamste und fürsorglichste Professor, der mir je begegnet ist«,
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