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verallgemeinernde Aussagen über Menschen, darunter auch die Adjektive, mit denen wir uns gegenseitig charakterisieren – schüchtern, aggressiv, gewissenhaft, angenehm –, irreführend sind. Ihnen zufolge gibt es kein festes Selbst, sondern nur die verschiedenen Selbste in Situation X, Y und Z. Die Ansicht der Situationisten erlangte 1968 Bedeutung, als der Psychologe Walter Mischel das Buch Personality and Assessment publizierte, in dem er den Gedanken von feststehenden Persönlichkeitsmerkmalen infrage stellte. 1 Mischel argumentierte, dass Situationsfaktoren das Verhalten von Menschen wie Brian Little sehr viel besser vorhersagen würden als angebliche Persönlichkeitsmerkmale.
In den folgenden Jahrzehnten setzte sich der Situationismus durch. Die postmoderne Sicht des Selbst, die sich damals, beeinflusst von Theoretikern wie Erving Goffman, Autor von Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag , herausschälte, ging von dem Gedanken aus, dass das soziale Leben eine Theateraufführung ist und die sozialen Masken unser wahres Selbst sind. 2 Viele Wissenschaftler zogen in Zweifel, ob es überhaupt bestimmte Persönlichkeitsmerkmale in einem bedeutsamen Sinn gibt. Persönlichkeitspsychologen mussten um eine Anstellung bangen.
Aber so wie die Veranlagung-oder-Sozialisation-Debatte durch den Interaktionismus abgelöst wurde – die Einsicht, dass beide Faktoren zu unserer Identität beitragen und sich gegenseitig beeinflussen –, so haben auch viele Psychologen in jüngster Zeit die Person-Situation-Kontroverse durch ein differenzierteres Verständnis ersetzt. Sie erkennen an, dass uns um sechs Uhr abends nach Geselligkeit zumute sein kann und abends um zehn Uhr nach Einsamkeit und dass solche Fluktuationen plausibel und situationsbedingt sind. Aber sie betonen auch, dass eine Vielzahl von Belegen aufgetaucht sind, die die Prämisse stützen, dass es trotz dieser Schwankungen tatsächlich so etwas wie eine feste Persönlichkeit gibt.
Heutzutage gibt selbst Mischel zu, dass Persönlichkeitsmerkmale existieren, auch wenn er glaubt, dass sie meist in bestimmten Mustern auftreten: Einige Menschen sind beispielsweise aggressiv gegenüber Gleichrangigen oder Untergebenen und gefügig gegenüber Autoritäten, andere haben das genau gegenteilige Verhalten. »Ablehnungssensible« Menschen sind warm und liebevoll, wenn sie sich sicher fühlen, aber feindselig und kontrollierend, sobald sie sich zurückgewiesen fühlen.
Doch dieser komfortable Kompromiss lässt eine wichtige Frage in der Persönlichkeitstheorie offen: die Rolle des freien Willens. Wenn unser Verhalten tatsächlich Schwankungen unterworfen ist, können wir dann kontrollieren, welches Gesicht wir der Welt in einem bestimmten Augenblick zeigen? Wir wissen aus Carl Schwartz’ Arbeit (dargestellt in Kapitel 5), dass es physiologische Grenzen für unsere Identität und unser Verhalten gibt. Sollten wir versuchen, unser Verhalten innerhalb des uns zur Verfügung stehenden Rahmens zu manipulieren, oder sollten wir einfach uns selbst treu sein? Sollten Sie sich beispielsweise als Introvertierter in der Geschäftswelt Ihr wahres Selbst für ruhige Wochenenden aufheben und während der Woche möglichst versuchen, »nach außen zu gehen, sich unter Menschen zu mischen, öfter zu sprechen, mit Ihrem Team und anderen in Kontakt zu treten und Ihre ganze Energie und Persönlichkeit dafür einzusetzen«, wie der Manager Jack Welch in einer Internet-Kolumne der Business Week empfahl? Sollten Sie sich als extravertierter Student Ihr wahres Selbst für ausgelassene Wochenenden aufsparen und während der Woche konzentriert studieren? Können Menschen ihre Persönlichkeit so genau einstellen? Die einzige gute Antwort auf diese Fragen, die ich kenne, stammt von Professor Brian Little.
Am Morgen des 12. Oktober 1979 besuchte Little das Royal Military College Saint Jean am Richelieu River vierzig Kilometer südlich von Montreal, um vor einer Gruppe von leitenden Offizieren zu sprechen. Wie man es von einem Introvertierten erwarten würde, bereitete er sich gründlich auf die Rede vor und probte nicht nur seine Ausführungen, sondern achtete auch darauf, dass er die neueste Forschung zitieren konnte. Während er seinen Vortrag hielt, war er, wie er es nennt, im klassischen Introvertierten-Modus und achtete ständig auf Missfallenssignale vom Publikum, um notwendige Korrekturen vornehmen zu können – einen statistischen Beleg hier, eine kleine
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