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meiner Familie auf 500 Hektar irgendwo auf dem Land zu leben. In diesem Traum kommen keine Freunde vor. Wie auch immer also meine öffentliche Persona aussehen mag, ich bin ein Introvertierter. Ich glaube, dass ich im Grunde dieselbe Person bin, die ich immer war: hochgradig schüchtern, aber ich kompensiere es.«
Die Frage ist: Wie viele von uns sind wirklich imstande, in einem solchen Ausmaß wider unser Naturell zu handeln (ganz abgesehen von der Frage, ob wir das wollen)? Professor Little ist zufällig ein großartiger Schauspieler, und das gilt vermutlich auch für viele Unternehmenslenker. Wie sieht es mit den anderen aus?
Vor einigen Jahren wollte der experimentelle Psychologe Richard Lippa diese Frage ergründen. 4 In einem Experiment bat er Introvertierte, sich wie Extravertierte zu verhalten, während sie eine fiktive Mathematikklasse unterrichteten. Dann bestimmten er und sein Team mithilfe von Handvideokameras die Länge ihrer Schritte, das Ausmaß an Augenkontakt mit den »Schülern«, den Prozentsatz der Zeit, in der sie redeten, sowie das Tempo und die Lautstärke ihres Vortrags und die Gesamtlänge der Lehreinheit. Sie vergaben auch Punkte dafür, wie allgemein extravertiert die Probanden wirkten, gegründet auf den Aufnahmen von ihrer Stimme und ihrer Körpersprache.
Anschließend führte Lippa dasselbe Experiment mit echten Extravertierten durch und verglich die Ergebnisse. Letztere wirkten zwar extravertierter, aber wie Lippa feststellte, waren einige der Pseudoextravertierten erstaunlich überzeugend. Allem Anschein nach wissen die meisten Introvertierten, wie man Extravertierheit in einem gewissen Maße vortäuscht. Auch wenn uns vielleicht nicht bewusst ist, dass unsere Schrittlänge und das Ausmaß an Zeit, das wir mit Sprechen und Lächeln zubringen, uns als Introvertierte oder Extravertierte ausweisen, so wissen wir es doch unbewusst.
Dennoch können wir unsere Selbstdarstellung nur begrenzt kontrollieren. Das ist teilweise auf das sogenannte »Verhaltensleck« zurückzuführen, ein Phänomen, bei dem sich unser wahres Selbst durch die unbewusste Körpersprache verrät: ein subtiles Wegschauen, wo ein Extravertierter Augenkontakt hergestellt hätte, eine geschickte Wendung in einem Gespräch, mit der ein Dozent die Studenten in die Pflicht nimmt zu reden, während ein extravertierter Sprecher selbst ein wenig länger gesprochen hätte.
Wie war es zu erklären, dass einige von Lippas Pseudoextravertierten so nahe an die Ergebnisse der wahren Extravertierten herankamen? Wie sich herausstellte, erreichten die Introvertierten, die besonders gut darin waren, sich wie Extravertierte zu verhalten, eine hohe Punktzahl bei einem Merkmal, das die Psychologen »Selbstbeobachtung« (self-monitoring) nennen. Menschen, die sich selbst beobachten, sind hochgradig erfahren darin, ihr Verhalten den sozialen Erfordernissen einer Situation anzupassen. Sie halten nach Signalen Ausschau, wie sie sich verhalten sollen – und handeln danach. Wenn sie in Rom sind, verhalten sie sich wie Römer, sagt der Psychologe Mark Snyder, Autor von Public Appearances, Private Realities und Erfinder der Selbstbeobachtungsskala. 5
Einer der effektivsten Selbstbeobachter, die ich kenne, ist ein Mann namens Edgar. Der bekannte und allseits beliebte Edgar gehört zum festen Inventar der New Yorker Gesellschaft. Er und seine Frau nehmen fast an jedem Abend in der Woche an einer Benefizgala und anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen teil oder sind ihre Gastgeber. Er ist die Art von Enfant terrible, dessen neueste Possen ein beliebtes Gesprächsthema sind. Aber Edgar ist ein bekennender Introvertierter. »Ich lese lieber und denke nach, als mich mit Menschen zu unterhalten«, sagt er.
Und dennoch unterhält er sich mit Menschen. Edgar ist in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem viele Menschen ein und aus gingen. Dabei wurde von ihm erwartet, sich selbst zu beobachten, und seitdem ist er auch dazu motiviert. »Ich liebe Politik«, sagt er. »Ich liebe Höflichkeit, ich liebe es, Dinge in Bewegung zu setzen. Ich habe ein Ego, ich will die Welt auf meine Weise verändern. Also verhalte ich mich künstlich. Ich gehe nicht wirklich gern auf die Partys anderer Leute, denn dann muss ich unterhaltsam sein. Aber ich gebe viele Partys, weil ich dann nichts tun muss. Ich stehe automatisch im Mittelpunkt, ohne im Grunde ein geselliger Mensch zu sein.«
Wenn er auf Partys geht, spielt Edgar seine Rolle bravourös. »In den Jahren
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