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Temperament – eine Art Extraversion auf Speed, die mit den Worten eines Psychiaters durch eine »überschwängliche, überaktive, euphorische und extrem selbstbewusste Wesensart« gekennzeichnet ist. 1 Das soll sich angeblich im Geschäftsleben, besonders im Verkauf, als Vorteil erweisen. Menschen mit einem solchen Wesen sind oft wunderbare Gesellschafter, wie es Tony auf der Bühne ist. Doch was, wenn man zwar die Hyperthymen bewundert, aber auch sein eigenes ruhiges, besonnenes Ich mag? Was, wenn man wünschte, es gäbe mehr, nicht weniger nachdenkliche Menschen auf der Welt?
Tony scheint solche Fragen vorausgeahnt zu haben. »Aber ich bin nicht extravertiert, sagen Sie!«, verkündet er am Anfang des Seminars. »Na und? Sie brauchen nicht extravertiert zu sein, um sich lebendig zu fühlen!«
Zweifellos nicht. Doch Tony zufolge sollten Sie sich besser wie ein Extravertierter verhalten, wenn Sie die Verkaufsverhandlung nicht vermasseln und mit ansehen wollen, wie ihre Angehörigen wie Schweine in der Hölle schmoren.
Den Höhepunkt des Abends bildet der Feuerlauf, eine der Attraktionen des Seminars. Wir werden aufgefordert, über ein drei Meter langes Bett mit glühenden Kohlen zu laufen, ohne uns die Füße zu verbrennen. Viele nehmen an diesem Seminar teil, weil sie vom Feuerlauf gehört haben und ihn selbst ausprobieren wollen. Die Idee dabei ist, dass man sich in einen so furchtlosen Gemütszustand versetzt, dass man sogar 500 Grad Hitze unbeschadet übersteht.
Bis dahin trainieren wir stundenlang Tonys Techniken – mit Übungen, Tanz, Visualisierungen. Ich stelle fest, dass die Leute im Saal anfangen, jede Bewegung und jede Mimik von Tony nachzuahmen, einschließlich seiner charakteristischen Geste, seinen Arm nach oben zu schwingen, als werfe er einen Baseball. Der Abend geht seinem Höhepunkt entgegen, als schließlich kurz vor Mitternacht fast 4000 Menschen, die zum Rhythmus von Stammestrommeln Ja! Ja! Ja! intonieren, in einem Fackelzug zum Parkplatz marschieren. Das scheint die Seminarteilnehmer zu elektrisieren, aber für mich klingt dieser von Trommeln begleitete Sprechgesang – Ja! Ba-da-da- Da, Ja! Dumdum-dum- Dum, Ja! Ba-da-da- Da – so, als würde ein römischer General nach seiner letzten militärischen Eroberung einen Siegeszug inszenieren. Die Ordner, die noch am Vormittag mit erhobener Hand und strahlendem Lächeln als Türhüter fungierten, haben sich in Wächter des Feuerlaufs verwandelt und locken uns mit ausgebreiteten Armen an, über das Feuerbett zu laufen.
Soweit ich es beurteilen kann, hängt ein erfolgreicher Feuerlauf weniger vom eigenen Geisteszustand als von der Dicke der Fußsohlen ab, und deshalb schaue ich lieber aus sicherer Entfernung zu. Aber ich scheine die Einzige zu sein, die sich zurückhält. Die meisten Teilnehmer schaffen es hinüberzukommen und jauchzen dabei vor Begeisterung.
»Ich hab’s geschafft!«, rufen sie, wenn sie am anderen Ende ankommen, »ich hab’s geschafft!«.
Sie haben einen Tony-Robbins-Geisteszustand erreicht. Doch woraus besteht der genau?
Er besteht vor allen Dingen aus Überlegenheit – dem Gegenmittel für Adlers Minderwertigkeitskomplex. Tony verwendet das Wort Kraft statt Überlegenheit (heutzutage sind wir zu klug, um unser Streben nach Selbstvervollkommnung ungeschminkt in sozialdarwinistische Begriffe zu kleiden), aber alles an ihm ist eine Übung in Überlegenheit, von seiner Art, die Teilnehmer manchmal als »Mädels und Jungs« anzusprechen, über die Geschichten, die er von seinen großen Häusern und mächtigen Freunden erzählt, bis hin zu der Art, wie er die Menge – buchstäblich – überragt. Seine beachtliche Körpergröße ist ein wichtiger Bestandteil seines Auftritts; der Titel seines Bestsellers Awaken the Giant Within (»Weck den Riesen in dir«) spricht Bände.
Auch sein Intellekt ist beeindruckend. Obwohl er eine akademische Ausbildung geringschätzt (weil man dabei nach seinen Worten nichts über die eigenen Gefühle und den eigenen Körper lernt) und er sich mit seinem neuen Buch Zeit lässt (weil sowieso niemand mehr liest, wie er meint), hat er es geschafft, sich die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologen anzueignen und sie in eine Supershow mit echten Einsichten zu verpacken, die das Publikum sich zu eigen machen kann.
Zum Teil liegt Tonys Genialität darin, dass er seinem Publikum indirekt verspricht, sie an seinem eigenen Weg aus der Minderwertigkeit zur Überlegenheit teilhaben
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