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Status ab. Das ist hier einfach die Norm. Hier macht jeder den Mund auf, ist kontaktfreudig und aufgeschlossen.«
»Gibt es denn niemanden, der zu den Stillen im Lande gehört?« , erkundige ich mich.
Sie werfen mir einen eigenartigen Blick zu.
»Keine Ahnung«, sagt der erste Student wegwerfend.
Die HBS ist auf jeden Fall keine gewöhnliche Hochschule. Gegründet 1908, als Dale Carnegie noch als Vertreter durch die Lande fuhr, und nur drei Jahre, bevor er sein erstes Rhetorikseminar gab, versteht sie sich als Ort, »an dem Führungskräfte herangebildet werden, die etwas in der Welt bewegen«. Der ehemalige Präsident George W. Bush ist ebenso einer ihrer Absolventen wie eine beeindruckende Reihe von Weltbankpräsidenten, amerikanischen Finanzministern, New Yorker Bürgermeistern sowie Vorstandschefs von Firmen wie General Electric, Goldman Sachs, Procter and Gamble, und nicht zuletzt der berüchtigte Jeffrey Skilling, der Bösewicht im Enron-Skandal. 2 Zwischen 2004 und 2006 waren 20 Prozent aller Spitzenmanager in den obersten drei Stellungen der 500 umsatzstärksten Firmen der Welt HBS-Absolventen.
HBS-Absolventen haben höchstwahrscheinlich unser Leben beeinflusst, ohne dass wir es ahnen. Sie haben beschlossen, wer wann in den Krieg ziehen soll; sie haben über das Schicksal der Detroiter Autoindustrie entschieden; sie spielen führende Rollen in praktisch jeder Krise, die die Wall Street, Main Street und Pennsylvania Avenue erschüttert. Wenn Sie in einem amerikanischen Unternehmen arbeiten, prägen Absolventen der Harvard Business School höchstwahrscheinlich auch Ihren Alltag: Diese Leute wägen ab, wie viel Privatsphäre Sie am Arbeitsplatz brauchen, wie viele Teamarbeitskurse Sie jährlich besuchen sollten und ob Kreativität eher durch Brainstorming oder durch Einzelarbeit gefördert wird. Wenn man bedenkt, wie weitreichend ihr Einfluss ist, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, wer sich dort einschreibt – und welche Werte sie verkörpern, wenn sie Examen machen.
Der Student, der mir bei meiner Suche nach Introvertierten an der HBS Glück gewünscht hat, ist zweifellos der Ansicht, dass es dort keine gibt. Er hat offenbar Don Chen, einen Kommilitonen aus dem ersten Studienjahr, nie kennengelernt. Ich begegne Don zum ersten Mal im Spangler Center, wo er nur ein paar Sofas weiter als die Studenten sitzt, die ihre Ausflüge planen. Auch er wirkt wie ein typischer HBS-Student. Er ist groß, hat markante Wangenknochen, ein gewinnendes Lächeln, einen modisch kurzen Surfer-Haarschnitt und gute Manieren. Nach dem Examen möchte er sich einen Job in einer Firma für außerbörsliche Unternehmensbeteiligungen suchen. Wenn man aber eine Weile mit Don redet, merkt man, dass seine Stimme weicher klingt als die seiner Kommilitonen, dass sein Kopf etwas schief geneigt und sein Lächeln ein wenig zögernd ist. Don bezeichnet sich selbst ungeniert als »verbitterten Introvertierten«, verbittert, weil er, je länger er an der HBS ist, desto mehr zu der Überzeugung kommt, dass er sich besser ändern sollte.
Don hat gern viel Zeit für sich, doch das ist an der HBS nicht vorgesehen. Sein Tag beginnt frühmorgens, wenn er sich eineinhalb Stunden lang mit seinem »Lernteam« trifft – einer ihm zugteilten Studiengruppe, an der die Teilnahme obligatorisch ist (Studenten der HBS gehen praktisch im Team aufs Klo). Den übrigen Vormittag verbringt er in einem der Seminare. Neunzig Studenten sitzen in einem holzgetäfelten, hufeisenförmigen Hörsaal mit stufenweise angeordneten Sitzreihen. Zu Anfang bittet der Professor gewöhnlich eine Studentin oder einen Studenten, die Fallstudie des Tages vorzustellen, die aus dem realen Geschäftsalltag gegriffen ist – eine Firmenchefin erwägt beispielsweise eine Änderung der Gehaltsstruktur ihres Unternehmens. Die Hauptfigur in der Studie, in diesem Fall die Firmenchefin, wird als »Protagonist« oder »Protagonistin« bezeichnet. Wenn Sie der Protagonist oder die Protagonistin wären, fragt der Professor – und bald werden Sie es sein, schwingt in seinen Worten mit –, was würden Sie tun?
Die Ausbildung an der HBS läuft im Kern darauf hinaus, Studenten zu Führungspersönlichkeiten heranzubilden, die selbstsicher handeln und Entscheidungen angesichts unvollständiger Informationen treffen können. Die Lehrmethode spielt mit einer uralten Frage: Wenn man nicht alle Fakten kennt – und das ist häufig der Fall –, sollte man dann erst handeln, wenn man
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