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»Tony gibt mir Energie«, sagt er. »Jetzt kann ich anderen Menschen diese Energie vermitteln, wenn ich vor ihnen stehe.«
Am Anfang der Persönlichkeitskultur wurde uns aus rein egoistischen Gründen empfohlen, eine extravertierte Persönlichkeit zu entwickeln: um die anderen in der neuen anonymen Konkurrenzgesellschaft in den Schatten zu stellen. Heutzutage aber glauben wir, extravertierter zu werden mache uns nicht nur erfolgreicher – es mache uns auch zu besseren Menschen. Die Kunst des Verkaufens wird als Methode betrachtet, die Welt mit den eigenen Talenten zu beglücken.
Deswegen wird Tonys Eifer, seine Seminare zu verkaufen und zugleich von Tausenden von Menschen angebetet zu werden, nicht als Narzissmus oder Profitmacherei bewertet, sondern als Führungsqualität höchster Ordnung. Wenn Abraham Lincoln die Verkörperung der Tugend in der Charakterkultur darstellte, dann ist Tony Robbins sein Pendant in der Persönlichkeitskultur. Als Tony erwähnt, dass er einmal darüber nachgedacht habe, für das Amt des amerikanischen Präsidenten zu kandidieren, bekommt er lauten Applaus.
Aber kann man denn Führungstalent immer mit Hyper-Extraversion gleichsetzen? Um das herauszufinden, besuchte ich die Harvard Business School (HBS), eine Institution, die stolz auf ihre Leistung ist, einige der herausragendsten Köpfe der wirtschaftlichen und politischen Führungsriege unserer Zeit entdeckt und ausgebildet zu haben.
Der Mythos der charismatischen Führung: Von der Harvard Business School bis zu den Internetgurus
Das Erste, was mir auf dem Campus der Harvard Business School auffällt, ist, wie die Leute gehen. Niemand bummelt, schlendert oder trödelt. Alle schreiten zielgerichtet aus. In der Woche, in der ich hinfahre, ist es herbstlich frisch, und die Studenten, die über den Campus eilen, wirken wie von der Septemberenergie elektrisch aufgeladen. Begegnen sie einander, nicken sie sich nicht nur zu, sondern begrüßen sich lebhaft und fragen nach, wie das Sommer-Praktikum bei Goldman Sachs oder das Himalaja-Trekking gelaufen ist.
Genauso geht es auch im Spangler Center zu, dem prunkvoll eingerichteten Studienzentrum und allgemeinen studentischen Treffpunkt. Raumhohe Seidenvorhänge in Meergrün hängen an den Fenstern, üppige Ledersofas laden zum Sitzen ein, über riesige hochauflösende Bildschirme flimmern stumm die neuesten Neuigkeiten vom Campus, und von den hohen Decken hängen strahlende Kronleuchter. Die Sofas und Tische sind vorwiegend die Wände entlang angeordnet, sodass in der Mitte ein hell erleuchteter Laufsteg entsteht, über den die Studenten forsch schreiten, scheinbar ohne zu bemerken, dass alle Blicke auf sie gerichtet sind. Ich bewundere ihre Nonchalance.
Die Studenten übertreffen ihre Umgebung noch, falls das überhaupt möglich ist. Niemand hat mehr als zweieinhalb Kilo Übergewicht, eine schlechte Haut oder unpassende Accessoires. Die Studentinnen wirken wie eine Kreuzung aus Cheerleader und Erfolgsfrau. Sie tragen enge Jeans, zarte Blusen und hochhackige, vorne offene Schuhe, die auf den polierten Holzböden des Spangler-Gebäudes ein angenehmes Klick-Klack erzeugen. Manche haben den Gang eines Mannequins, nur strahlen sie und sind kontaktfreudig, statt unnahbar und teilnahmslos. Die Männer sind adrett und sportlich. Sie sehen wie Menschen aus, die ganz selbstverständlich davon ausgehen, die Führung zu übernehmen, aber auf freundliche Art, wie Pfadfinderführer. Würden Sie einen von ihnen nach dem Weg fragen, so würde er sich, wie ich glaube, mit beflissenem Lächeln der Aufgabe widmen, Sie an Ihr Ziel zu lotsen – egal ob er weiß, wie man hinkommt oder nicht.
Ich setze mich neben ein paar Studenten, die gerade dabei sind, einen Ausflug zu planen. Die Studenten der Harvard Business School sind ständig damit beschäftigt, Kneipenbummel und Partys zu besprechen oder von einer Extremreise zu erzählen, von der sie gerade zurückgekehrt sind. Als sie wissen wollen, weswegen ich auf dem Campus bin, sage ich, dass ich Interviews für ein Buch über Intro- und Extraversion mache. Dabei erwähne ich nicht, dass einer meiner Freunde, selber HBS-Absolvent, die Hochschule einmal als »Kaderschmiede der Extraversion« bezeichnet hat. Aber das brauche ich ihnen auch gar nicht zu sagen.
»Viel Glück, wenn Sie hier einen Introvertierten suchen wollen«, sagt der eine.
»Diese Hochschule basiert auf Extraversion«, fügt der andere hinzu. »Davon hängen die Noten und der soziale
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