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bedingt ist. Aber es sind vermutlich viele Gene am Werk, und Kagans Konzept der Hochreaktivität ist vielleicht nur einer der vielen physiologischen Erklärungsversuche der Introversion. (Wir werden einen anderen in Kapitel 7 untersuchen.) Außerdem sind Durchschnittsangaben mit Vorsicht zu bewerten. Eine Erblichkeitsquote von 50 Prozent besagt nicht unbedingt, dass ich meine Introversion zur Hälfte von meinen Eltern geerbt habe oder dass der Unterschied zwischen meiner besten Freundin und mir in puncto Extraversion zur Hälfte auf Gene zurückzuführen ist. Meine Introversion kann zu 100 Prozent auf Vererbung beruhen oder auch gar nicht – oder mit höherer Wahrscheinlichkeit auf einer unergründlichen Kombination aus Vererbung und Erfahrung. Die Frage, ob Introversion auf Anlage oder Sozialisation beruht, ist nach Kagan, als würde man fragen, ob ein Schneesturm durch Temperatur oder durch Feuchtigkeit ausgelöst wird. Es ist die komplizierte Interaktion zwischen beidem, die uns zu dem macht, was wir sind.
Vielleicht habe ich also die falsche Frage gestellt. Vielleicht ist das Rätsel, wie viel Prozent der Persönlichkeit auf Anlage und wie viel auf Sozialisation beruhen, weniger wichtig als die Frage, wie unser angeborenes Temperament mit der Umgebung und unserem eigenen freien Willen interagiert. Wie weit fällt der Apfel unseres Lebens vom Stamm unseres Temperaments? Wie viel Einfluss haben wir darauf, wohin der Apfel fällt? Mit anderen Worten: In welchem Maße ist Temperament Schicksal?
Nach der Theorie der Gen-Umwelt-Interaktion neigen Menschen, die bestimmte Wesensmerkmale geerbt haben, einerseits dazu, sich Erfahrungen im Leben zu suchen, die diese Eigenschaften verstärken. Die meisten gering reaktiven Kinder beispielsweise liebäugeln schon als Kleinkinder mit der Gefahr, sodass sie, wenn sie erwachsen sind, angesichts hoher Risiken nicht mit der Wimper zucken. Sie »klettern über ein paar Zäune, werden desensibilisiert und klettern aufs Dach«, erklärte der Psychologe David Lykken einmal in einem Artikel der Zeitschrift Atlantic Monthly . 11 »Sie probieren alles Mögliche aus, was andere Kinder nicht ausprobieren. Chuck Yeager (der erste Pilot, der die Schallmauer durchbrach) konnte vom Bauch des Bombers auf den Bombenträger steigen und den Ausklinkmechanismus betätigen, nicht weil ihm dies angeboren war, sondern weil sein Temperament ihn vorher dreißig Jahren lang dazu motiviert hatte, erst auf Bäume zu klettern und sich dann immer größeren Gefahren und Aufregungen auszusetzen.«
Im Gegensatz dazu entwickeln sich hoch reaktive Kinder eher zu Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Denkern, weil ihre Aversion gegen Neues zur Folge hat, dass sie ihre Zeit in dem ihnen vertrauten – und intellektuell fruchtbaren – Universum ihres eigenen Denkens verbringen. »Die Universität ist voll von Introvertierten«, sagte mir der Psychologe Jerry Miller, der das »Center for the Child and the Family« an der Universität von Michigan leitet. »Das Stereotyp des Professors trifft auf viele Leute an der Universität zu: Sie lesen gern; für sie gibt es nichts Aufregenderes als die Welt der Ideen. Und das hat zum Teil damit zu tun, wie sie ihre Zeit als Kinder und Jugendliche zugebracht haben. Wenn jemand ständig unterwegs ist, bleibt ihm weniger Zeit fürs Lesen und Lernen. Die Zeit im Leben ist begrenzt.«
Andererseits ist die Bandbreite möglicher Entwicklungen für jedes Temperament groß. Gering reaktive Kinder können sich, wenn sie in einer fürsorglichen Familie und heilen Umgebung aufwachsen, als Erwachsene zu energiegeladenen Erfolgsmenschen mit einer großen Persönlichkeit entwickeln – den Bill Clintons, Jack Welches und Madonnas dieser Welt. Aber werden dieselben Kinder vernachlässigt oder wachsen in einer ungünstigen Umgebung auf, so meinen einige Wissenschaftler, können sie sich auch zu Raufbolden, jugendlichen Delinquenten oder Kriminellen entwickeln. Nach Lykkens umstrittener Aussage sind Psychopathen und Helden »Zweige desselben genetischen Asts«. 12
Betrachten wir die Mechanismen, mit deren Hilfe Kinder ein Gefühl für richtig und falsch erwerben. Viele Psychologen glauben, dass sich das Gewissen von Kindern entwickelt, wenn sie etwas Unangemessenes tun und von ihren Erziehern gescholten werden. Die Missbilligung flößt ihnen Angst ein, und da Angst unangenehm ist, lernen sie, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen. Diesen Vorgang nennt man
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