B00B5B7E02 EBOK
reaktive Männer eher als andere dünn sind und ein schmales Gesicht haben. 7 Solche Schlussfolgerungen sind spekulativ und erinnern an das im 19. Jahrhundert praktizierte Verfahren, die Seele eines Menschen anhand seiner Schädelform zu beurteilen. Aber ganz gleich, ob sie sich als richtig erweisen sollten oder nicht, sind dies interessanterweise genau die Merkmale, mit denen wir fiktionale Charaktere ausstatten, wenn wir andeuten wollen, dass sie still, introvertiert und intellektuell ausgerichtet sind. Es ist, als wären diese physiologischen Tendenzen tief in unserem kulturellen Unbewussten vergraben.
Nehmen wir zum Beispiel Disneyfilme. Kagan und seine Kollegen vermuten, dass die Disney-Trickfilmzeichner unbewusst ein Verständnis von hoher Reaktivität hatten, als sie sensiblen Figuren wie Aschenbrödel, Pinocchio und Seppel blaue Augen und dreisteren Charakteren wie Aschenbrödels Stiefschwestern, Brummbär und Peter Pan dunklere Augen gaben. Auch in vielen Hollywoodfilmen und Fernsehserien ist der Standardcharakter des dünnen, ständig verschnupften jungen Mannes die Chiffre für einen unglücklichen, aber nachdenklichen Jungen, der gute Noten hat, vom Treiben in der Gemeinschaft ein wenig überfordert ist und ein Talent für introspektive Aktivitäten wie Poesie oder Astrophysik hat. (Denken wir an Ethan Hawke im Club der toten Dichter .) Kagan nimmt sogar an, dass manche Männer Frauen mit heller Haut und blauen Augen vorziehen, weil sie sie unbewusst als besonders sensibel einstufen.
Auch andere Untersuchungen über die Persönlichkeit stützen die These, dass Extraversion und Introversion physiologisch, wenn nicht gar genetisch begründet sind.
Eine der gebräuchlichsten Methoden, um zwischen Anlage und Sozialisation zu unterscheiden, besteht darin, die Wesensmerkmale eineiiger und zweieiiger Zwillinge zu vergleichen. Eineiige Zwillinge entwickeln sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle und besitzen daher exakt dieselbe genetische Ausstattung, während zweieiige Zwillinge sich aus getrennten Eizellen entwickeln und daher nur zur Hälfte genetisch übereinstimmen. Wenn man also den Grad der Introversion oder Extraversion bei Zwillingspaaren misst und eine größere Korrelation bei eineiigen als bei zweieiigen Zwillingen feststellt – und das ist in der Tat bei sämtlichen Untersuchungen der Fall, selbst wenn die Zwillinge getrennt aufwachsen –, kann man mit hoher Sicherheit daraus schließen, dass dieses Wesensmerkmal eine gewisse genetische Grundlage hat.
Natürlich ist es denkbar, dass eineiige Zwillinge nicht nur genetisch gleich sind, sondern auch eher gleich behandelt werden als zweieiige Zwillinge, was eine Trübung der Ergebnisse durch Sozialisation und Umwelteinflüsse bedeuten würde. Einige Wissenschaftler versuchen das Problem zu umgehen, indem sie zweieiige und eineiige Zwillinge vergleichen, die getrennt aufgezogen wurden. Andere wiederum haben noch einen anderen Ansatz gefunden: Sie vergleichen Adoptivkinder mit ihren Adoptiveltern und deren natürlichen Kindern – ein Szenarium, in dem eine gemeinsame Umwelt ohne eine gemeinsame DNA gegeben ist. Solche Adoptionsstudien zeigen meistens, dass die Persönlichkeitsmerkmale der Kinder wenig Ähnlichkeit mit denen ihrer Adoptivfamilie aufweisen.
Keine dieser Studien ist perfekt, aber die Resultate legen übereinstimmend nahe, dass Introversion und Extraversion wie andere wichtige Wesenszüge – Freundlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein beispielsweise – zu 40 bis 50 Prozent erblich sind.
Aber ist die biologische Erklärung der Introversion völlig befriedigend? Als ich zum ersten Mal Kagans Buch Galen’s Prophecy las, war ich so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte. Hier auf diesen Seiten waren meine Freunde, meine Familie und ich – tatsächlich die gesamte Menschheit! – fein säuberlich eingeteilt mithilfe des Kriteriums eines ruhigen versus eines hoch reaktiven Nervensystems. Es schien also doch eine einfache Antwort auf die Frage nach Vererbung oder Erfahrung, Anlage oder Sozialisation zu geben: Wir alle kommen mit einem vorbestimmten Temperament zur Welt.
Aber es konnte doch nicht so einfach sein – oder doch? Können wir eine introvertierte oder extravertierte Persönlichkeit wirklich auf das Nervensystem reduzieren, mit dem ein Mensch geboren wird? Ich halte mich für eine hoch reaktive Introvertierte, aber meine Mutter behauptet, dass ich ein unproblematisches Baby war, kein Kind, das beim
Weitere Kostenlose Bücher