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Erfahrungen gemacht haben! Autoren und Journalisten reden immer so, als würde es nur monokausale Beziehungen geben: ein Verhalten, eine Ursache. Aber es ist wichtig zu begreifen, dass viele Auslöser zu einem Verhalten wie langsamem Auftauen, Schüchternheit, Impulsivität oder was auch immer führen können.«
Er spult Beispiele dafür ab, welche Faktoren unabhängig von einem reaktiven Nervensystem oder im Zusammenspiel damit eine introvertierte Persönlichkeit produzieren könnten: Ein Kind hat vielleicht Spaß daran, sich etwas auszudenken, also verbringt es viel Zeit im Kopf. Auch gesundheitliche Probleme könnten ein Kind auf sein Inneres lenken, auf das, was sich in seinem Körper abspielt.
Meine Angst, vor einer größeren Gruppe zu sprechen, könnte ebenso komplexe Ursachen haben. Fürchte ich mich, weil ich eine hoch reaktive Introvertierte bin? Möglicherweise nicht. Manche Introvertierte halten gern Reden, und viele Extravertierte haben Lampenfieber. Reden halten ist die Angst Nummer eins in Amerika und weitaus verbreiteter als die Angst vor dem Tod. Diese Phobie hat viele Ursachen, darunter auch negative Erfahrungen in der frühen Kindheit, die mit unserer persönlichen Geschichte und nicht mit unserem angeborenen Temperament zusammenhängen.
Tatsächlich ist die Angst, vor einer Gruppe aufzutreten, vielleicht eine zutiefst menschliche Urangst – die nicht auf Menschen mit einem hoch reaktiven Nervensystem begrenzt ist. Einer der Theorien zufolge, die auf den Forschungen des Soziobiologen E. O. Wilson basiert, bedeutete intensives Beobachtetwerden zu der Zeit, als unsere Vorfahren noch in der Steppe lebten, nur eines: dass uns ein wildes Tier umschlich. Und wenn wir glauben, dass wir gleich gefressen werden, bleiben wir dann aufrecht stehen und beginnen zuversichtlich zu reden? Eher nicht. Wir machen uns aus dem Staub. Mit anderen Worten: Hunderttausende Jahre der Evolution drängen uns, das Podium zu verlassen, auf dem uns die Blicke der Zuschauer wie das Glitzern im Auge eines Raubtiers erscheinen, und fluchtartig das Weite zu suchen. Doch das Publikum erwartet nicht nur, dass wir an Ort und Stelle verharren, sondern auch, dass wir entspannt und voller Selbstvertrauen auftreten. Dieser Konflikt zwischen Biologie und Etikette ist einer der Gründe dafür, dass es so nervenaufreibend sein kann, eine Rede zu halten. Deshalb hilft nervösen Rednern auch nicht der Ratschlag, sich das Publikum nackt vorzustellen. Nackte Löwen sind genauso gefährlich wie elegant gekleidete.
Aber auch wenn alle Menschen vielleicht dafür anfällig sind, die Leute im Publikum für Raubtiere zu halten, hat jeder von uns eine andere Schwelle, bei der die Kampf-oder-Flucht-Reaktion ausgelöst wird. Wie schmal müssen die Augen der Zuschauer werden, bevor wir das Gefühl haben, gleich angegriffen zu werden? Ist dieses Gefühl schon da, bevor wir überhaupt ans Rednerpult treten? Oder sind erst einige Zwischenrufe notwendig, um den Adrenalinstoß auszulösen? Es ist nachvollziehbar, dass ein hochsensibler Mandelkern Sie empfänglicher für Stirnrunzeln, gelangweiltes Gähnen und Menschen macht, die sich nur für ihre Blackberrys interessieren, während Sie mitten im Satz stecken. Und tatsächlich zeigen Studien, dass Introvertierte signifikant mehr dazu neigen, Angst vor dem öffentlichen Reden zu haben.
Kagan erzählt mir, wie er einmal einen anderen Wissenschaftler beobachtete, der auf einer Konferenz einen hervorragenden Vortrag hielt. Nachher fragte der Redner ihn, ob sie zusammen Mittag essen gehen wollten. Kagan war einverstanden, und der Wissenschaftler gestand ihm, dass er jeden Monat einen Vortrag hielt und, obwohl er sich eine funktionierende soziale Maske zugelegt hatte, dabei jedes Mal vor Angst verging. Die Lektüre von Kagans Buch hatte ihm jedoch sehr geholfen.
»Sie haben mein Leben verändert«, vertraute er Kagan an. »Bis heute habe ich immer meiner Mutter die Schuld gegeben, aber nun glaube ich, dass ich ein Hochreaktiver bin.«
Bin ich also introvertiert, weil ich die Gene meiner Eltern geerbt oder weil ich ihre Gewohnheiten übernommen habe, oder beides? Wie schon erwähnt, zeigen die Erblichkeitsstatistiken aus den Zwillings- und Adoptionsstudien, dass Introversion und Extraversion nur zu 40 bis 50 Prozent auf Vererbung beruhen. Das bedeutet, dass die Streuung von Introversion und Extraversion bei einer beliebigen Gruppe von Menschen durchschnittlich zur Hälfte durch genetische Faktoren
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