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Titel: B00B5B7E02 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cain
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Platzen eines Luftballons gestrampelt und geschrien hätte. Ich neige zu massiven Anfällen von Selbstzweifel, aber ich finde auch einen tiefen Quell des Muts in meinen Überzeugungen. Ich fühle mich am ersten Tag in einer fremden Stadt furchtbar unwohl, und dennoch reise ich gern. Ich war als Kind schüchtern, habe das aber weitgehend überwunden. Überdies glaube ich nicht, dass diese Widersprüche so ungewöhnlich sind. Viele Menschen haben in ihrer Persönlichkeit Seiten, die nicht miteinander harmonieren. Auch ändern Menschen sich tiefgreifend im Laufe der Zeit. Und wie steht es mit dem freien Willen: Können wir bestimmen, wer wir sind und wer wir werden?
    Ich entschloss mich, Professor Kagan aufzusuchen, um ihm diese Fragen persönlich zu stellen. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, nicht nur aufgrund seiner überzeugenden Forschungsergebnisse, sondern auch aufgrund dessen, wofür er in der großen »Sozialisation-oder-Anlage«-Debatte stand. Kagan begann seine Laufbahn 1954 als standhafter Verfechter der Sozialisation, eine Ansicht, die mit dem damaligen wissenschaftlichen Establishment übereinstimmte. Damals war der Gedanke eines angeborenen Temperaments politischer Sprengstoff, weil er das Gespenst der Nazi-Eugenik und der Überlegenheit der Weißen heraufbeschwor. An der Vorstellung hingegen, Kinder seien ein unbeschriebenes Blatt und hätten unbegrenzte Möglichkeiten, fand eine Nation, die auf dem Glauben an Demokratie basierte, Gefallen.
    Doch im Laufe der Zeit änderte Kagan seine Meinung. »Ich wurde«, sagt er heute, »wider Willen von meinen Daten dazu gezwungen anzuerkennen, dass das angeborene Temperament stärker ist, als ich glaubte und gerne glauben würde.« 8 Die Veröffentlichung seiner frühen Forschungsergebnisse über hoch reaktive Kinder in der Zeitschrift Science im Jahre 1988 half, die Idee des angeborenen Temperaments salonfähig zu machen – teils auch gerade wegen seines Rufs als »Sozialisations«-Verfechter. Wenn jemand in der »Anlage-oder-Sozialisation«-Debatte für Klarheit sorgen konnte, dann, so hoffte ich, war es Jerry Kagan.
     
    Kagan bittet mich in sein Büro in der William James Hall von Harvard und begutachtet mich ungerührt, während ich mich setze – nicht unfreundlich, aber definitiv kritisch. 9 Ich hatte ihn mir als freundlichen, weißbekittelten Wissenschaftler wie aus dem Bilderbuch vorgestellt, der Chemikalien von einem Reagenzglas ins nächste schüttet, bis – Puff! Komm schon, Susan, du weißt genau, wer du bist . Aber dies hier ist nicht der gütige alte Professor, den ich mir vorgestellt habe. Paradoxerweise wirkt Kagan für einen Wissenschaftler, dessen Bücher voller Humanität stecken und der von sich selbst sagt, er sei ein ängstlicher, leicht zu erschreckender Junge gewesen, 10 regelrecht einschüchternd auf mich. Ich beginne unser Interview, indem ich eine Grundsatzfrage stelle, mit deren Prämisse er nicht einverstanden ist. »Nein, nein, nein!«, donnert Kagan los, als würde ich ihm nicht direkt gegenübersitzen.
    Die hoch reaktive Seite meiner Persönlichkeit läuft sofort Amok. Ich spreche immer leise, doch jetzt muss ich mich dazu zwingen, nicht nur zu flüstern (auf der Tonbandaufnahme unseres Gesprächs klingt Kagans Stimme dröhnend und pathetisch, meine viel leiser). Mir fällt auf, dass sich mein Oberkörper verspannt, eines der verräterischen Zeichen der Hochreaktiven. Der Gedanke, dass es auch Kagan auffallen muss, fühlt sich seltsam an. Er bestätigt es mir nickend und merkt an, dass viele Hochreaktive Schriftsteller werden oder sich andere intellektuelle Berufe aussuchen, in denen »sie das Sagen haben: Sie machen die Tür zu, ziehen die Jalousien herunter und arbeiten. Sie sind vor Unerwartetem geschützt.« (Weniger gebildete Menschen werden aus denselben Gründen Sekretärinnen, Buchhalter oder Lkw-Fahrer, fügt er hinzu.)
    Ich erwähne ein kleines Mädchen aus meinem Bekanntenkreis, das nur ganz langsam auftaut. Sie studiert fremde Menschen, statt auf sie zuzugehen; ihre Familie fährt jedes Wochenende ans Meer, doch sie braucht eine Ewigkeit, um ihren Zeh in die Brandung zu tauchen. »Eine klassische Hochreaktive«, bemerke ich.
    »Nein!«, ruft Kagan aus. »Jedes Verhalten hat mehr als nur eine Ursache. Vergessen Sie das nie! Unter Kindern, die nur langsam auftauen, gibt es, statistisch gesehen, mehr Hochreaktive, aber es kann sein, dass sie langsam auftauen, weil sie in ihren ersten dreieinhalb Lebensjahren bestimmte

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