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nicht auf Kaffee und Schmerz; vielleicht sind sie nicht empfänglich für Sinneseindrücke, aber tiefe Denker mit einem reichen Innenleben. Möglicherweise sind sie nicht einmal introvertiert – das sind Aron zufolge nur 70 Prozent der Hochsensiblen, während die anderen 30 Prozent zu den Extravertierten zählen (obwohl diese Gruppe häufiger als die typischen Extravertierten berichtet, sich nach einer Auszeit und Einsamkeit zu sehnen). Das, so vermutet Aron, liegt daran, dass hohe Sensibilität als Nebenprodukt der Überlebensstrategie entstand, und man braucht nur einige, nicht alle Merkmale, damit die Strategie effektiv funktionierte.
Es gibt viele Belege für Arons Ansicht. Nach der gewöhnlichen Auffassung von Evolutionsbiologen passt sich eine Tierart den Rahmenbedingungen einer bestimmten ökologischen Nische an, wobei es ein Idealverhalten für jede Nische gibt und jene Mitglieder der Gattung, die vom Idealverhalten abweichen, nicht überleben. Aber erwiesenermaßen gibt es nicht nur unter den Menschen solche, die »etwas nur einmal, aber dafür richtig tun«, und andere, die »erst handeln, dann denken«. Auch über hundert Arten im Tierreich sind grob nach diesem Schema organisiert.
Von Fruchtfliegen über Hauskatzen bis hin zu Bergziegen, von Mondfischen über Buschbabys (eine Primatenart) bis hin zu Meisen gehören, wie Wissenschaftler herausgefunden haben, jeweils ungefähr 20 Prozent der Mitglieder der Art »zum bedächtigen Typus«, während die anderen 80 Prozent »impulsive« Typen sind, die sich forsch nach vorn wagen, ohne allzu sehr darauf zu achten, was in ihrer Umgebung vor sich geht. (Interessanterweise lag der Prozentsatz der Säuglinge in Kagans Labor, die hoch reaktiv veranlagt waren, ebenfalls bei etwa 20 Prozent.)
Wenn »impulsive« und »bedächtige« Tiere sich auf einer Party treffen würden, schreibt der Evolutionsbiologe David S. Wilson, »würden einige der impulsiven Exemplare jeden mit ihrer lauten Konversation langweilen, während andere Tiere sich in den Bart murmeln würden, dass man ihnen überhaupt keinen Respekt zollt. Bedächtige Tiere kann man am besten als schüchterne, sensible Typen beschreiben. Sie setzen sich nicht durch, aber sie beobachten und bekommen Dinge mit, die den Draufgängern verborgen bleiben. Sie sind die Schriftsteller und Künstler auf der Party, die außerhalb der Hörweite der Draufgänger interessante Gespräche führen. Sie sind die Erfinder, die sich neue Verhaltensweisen ausdenken, während die Draufgänger ihnen ihre Patente klauen, indem sie ihr Verhalten kopieren.« 18
Ab und zu stößt man in der Zeitung oder im Fernsehen auf Berichte über den Charakter von Tieren, in denen schüchternes Verhalten als unpassend und forsches Verhalten als attraktiv und bewundernswürdig hingestellt wird. Doch Wilson glaubt ebenso wie Aron, dass beide Tiertypen existieren, weil sie radikal unterschiedliche Überlebensstrategien repräsentieren – und jede zahlt sich anders und zu verschiedenen Zeiten aus. Nach der sogenannten Ausgleichstheorie der Evolution 19 ist ein bestimmtes Wesensmerkmal weder nur gut oder nur schlecht, sondern eine Mischung aus Vor- und Nachteilen, dessen Überlebenswert je nach Umstand variiert.
»Schüchterne« Tiere suchen weniger oft und ausgedehnt nach Futter, wodurch sie Energie sparen, sich mehr am Rand aufhalten und auf diese Weise überleben, wenn ihre natürlichen Feinde auftauchen. Forschere Tiere gehen munter drauflos und werden regelmäßig von denen verspeist, die auf der Nahrungskette weiter oben stehen, überleben jedoch, wenn die Nahrung knapp wird und es notwendig ist, mehr Risiken einzugehen. Als Wilson in einen Teich mit Sonnenbarschen metallene Fallen ohne Köder setzte, ein Ereignis, das für die Fische genauso ungewöhnlich gewesen sein muss wie für uns die Landung einer fliegenden Untertasse, konnten die forschen Exemplare sich nicht bezähmen, die Sache zu untersuchen – und landeten direkt in Wilsons Fallen. Die scheuen Fische hielten sich hingegen argwöhnisch am Rand des Teiches auf und machten es Wilson unmöglich, sie zu fangen. 20
Als es Wilson mit einem ausgeklügelten System gelungen war, beide Fischtypen zu fangen und in sein Labor zu bringen, akklimatisierten sich die forschen Exemplare schnell in ihrer neuen Umgebung und begannen ganze fünf Tage eher als ihre scheuen Artgenossen wieder zu fressen. »Es gibt nicht den optimalen [Tier]-Charakter«, schreibt Wilson, »sondern vielmehr eine
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