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Herden ihre hochsensiblen Antilopen.
Außer dass Biologen zwischen »scheuen« und »forschen« oder »impulsiven« und »bedächtigen« Tieren in einer bestimmten Gattung unterscheiden, sprechen sie auch von den »Falken« und »Tauben«. Kohlmeisen beispielsweise, bei denen einige Exemplare sehr viel aggressiver als andere sind, verhalten sich oft wie die Akteure von Fallstudien in einem Seminar über internationale Beziehungen. Meisen ernähren sich von Bucheckern, und in Jahren, in denen ein Mangel an Bucheckern herrscht, sind die »Falken« unter den Kohlmeisenweibchen erwartungsgemäß erfolgreicher, weil sie die Konkurrenten zum Kampf um die Bucheckern herausfordern. In Jahren mit einem Bucheckern-überfluss sind jedoch die »Tauben« unter den Kohlmeisenweibchen – die im Übrigen auch die aufmerksameren Mütter sind – erfolgreicher, weil die »Falken« ihre Zeit und Gesundheit sinnlos damit vergeuden, sich in Streitigkeiten zu verstricken.
Männliche Kohlmeisen haben hingegen das entgegengesetzte Muster. Das liegt daran, dass ihre Hauptrolle darin besteht, das Territorium zu verteidigen. In Jahren, in denen Futtermangel herrscht, verhungern so viele Kohlmeisen, dass genug Platz für alle da ist. Die »Falken« unter den Männchen machen dann denselben Fehler wie ihre weiblichen Artgenossen in den Jahren mit genügend Bucheckern – sie zanken sich und verschwenden mit jedem Kampf wertvolle Ressourcen. Aber wenn in guten Jahren die Nistplätze rar werden, zahlt sich die Aggression für die »Falken« unter den Männchen aus. 24
In Kriegszeiten – dem Äquivalent für ein schlechtes Bucheckernjahr bei Menschen – könnte es den Anschein haben, dass wir vor allem aggressive, heldenhafte Typen brauchen. Doch wenn unsere gesamte Bevölkerung aus kriegerischen Menschen bestehen würde, wer würde dann die potenziell tödliche, aber viel schleichendere Bedrohung, die von einem Virus oder dem Klimawandel ausgeht, bemerken oder gar etwas dagegen tun?
Vielleicht die hochsensiblen Introvertierten. Der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore führt seit Jahren einen Kreuzzug, um eine gleichgültige Welt auf die globale Erwärmung aufmerksam zu machen, obwohl er vielen Berichten zufolge ein Introvertierter ist. »Wenn Sie einen Introvertierten auf einen Empfang oder eine Veranstaltung mit hundert Leuten schicken, kommt er mit weniger Energie heraus, als er beim Hineingehen hatte«, sagt ein früherer Mitarbeiter seines Stabs. »Gore braucht nach einer Veranstaltung Ruhe.« Gore gibt zu, dass er sich nicht gut dazu eignet, eine zündende Rede zu halten. »Den meisten Politikern gibt es Energie, wenn man ihnen auf den Rücken klopft und die Hand schüttelt«, lautet einer seiner Aussprüche. »Mir gibt es Energie, Ideen zu diskutieren.«
Diese Kombination aus leidenschaftlichem Denken und der Sensibilität für Bedrohungen – beides gängige Charakteristika Introvertierter –, ergibt jedoch eine sehr schlagkräftige Mischung. Als Harvard-Student nahm Al Gore 1968 am Seminar eines einflussreichen Ozeanografen teil, der schon früh Beweise für den Zusammenhang zwischen dem Verbrennen fossiler Energien und dem Treibhauseffekt gesammelt hatte. Gore spitzte die Ohren. Man kann kaum umhin, an Elaine Arons hochsensible Antilopen zu denken, die aufhören zu grasen, um nach Feinden Ausschau zu halten.
Er versuchte, anderen sein Wissen mitzuteilen. Aber er stellte fest, dass die Menschen nicht zuhörten. Es war, als könnten sie die Alarmglocken nicht hören, die so laut in seinen Ohren dröhnten.
»Als ich Mitte der 70er Jahre in den Kongress ging, half ich, die ersten Anhörungen über die globale Erwärmung zu organisieren«, erinnert er sich in dem mit einem Oscar ausgezeichneten Film Eine unbequeme Wahrheit – ein Film, dessen aufwühlendste Actionszenen darin bestehen, dass ein einsamer Al Gore seinen Koffer über einen mitternächtlichen Flughafen rollt. Man sieht Gore sein aufrichtiges Erstaunen darüber an, dass niemand Interesse zeigte: »Ich dachte tatsächlich, die Sache sei fesselnd genug, um im Kongress ein Umdenken auszulösen. Ich dachte, auch sie würden hochschrecken. Aber dem war nicht so.«
Wenn Gore damals gewusst hätte, was wir heutzutage aufgrund von Kagans und Arons Forschung wissen, wäre er über die Reaktionen seiner Kollegen vielleicht weniger erstaunt gewesen. Er hätte sich möglicherweise sogar der Einsichten der Persönlichkeitspsychologie bedient, um die
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