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gegenüber der New York Times sagte: »Ein Erröten tritt in zwei oder drei Sekunden auf und besagt: ›Es macht mir etwas aus; ich weiß, dass ich den sozialen Kontrakt gebrochen habe.‹«
Tatsächlich ist ebendas, was viele Hochreaktive am Erröten vor allem hassen – nämlich seine Unkontrollierbarkeit –, genau das, was es sozial so nützlich macht. »Gerade weil man Erröten nicht willentlich beherrschen kann«, so Dijk, »ist es ein aufrichtiges Zeichen von Verlegenheit.« Und Verlegenheit ist Keltner zufolge eine moralische Emotion. Sie zeigt Demut, Bescheidenheit und den Wunsch, Aggression zu vermeiden und Frieden zu schließen. Sie isoliert den Menschen nicht, der sich beschämt fühlt (wie Menschen, die leicht erröten, manchmal glauben), sondern stiftet Zusammenhalt.
Keltner ist den Wurzeln der Verlegenheit auf den Grund gegangen und hat herausgefunden, dass auch viele Primaten nach einem Streit Wiedergutmachungsversuche unternehmen. Das tun sie teilweise mithilfe von Gesten der Verlegenheit von einer Art, wie man sie auch bei Menschen beobachten kann: Sie schauen weg, was eine Anerkennung des Fehlverhaltens und die Absicht darstellt, es einzustellen; sie senken den Kopf, wodurch sie kleiner erscheinen, und sie pressen als Zeichen der Hemmung die Lippen zusammen.
Diese Gesten werden bei Menschen »Demutsgesten« genannt, schreibt Keltner. Tatsächlich hat Keltner, der darin geschult ist, die Mimik zu lesen, Fotos von moralischen Größen, wie Gandhi und dem Dalai Lama, untersucht und festgestellt, dass sie exakt dieses kontrollierte Lächeln und die abgewandten Augen der Verlegenheit aufweisen.
In seinem Buch Born to be Good 16 sagt Keltner sogar, dass er, wenn er bei einem Speed Date eine Partnerin wählen sollte und nur eine einzige Frage stellen dürfte, sie fragen würde: »Was war dein letztes peinliches Erlebnis?« Dann würde er sehr sorgfältig auf das Zusammenpressen der Lippen, das Erröten und die abgewandten Augen achten. »Die Anzeichen von Verlegenheit sind kurze Hinweise darauf, dass eine Person das Urteil anderer achtet«, schreibt er. »Verlegenheit enthüllt, wie viel jemand auf die Regeln gibt, die uns aneinander binden.«
Mit anderen Worten: Sie sollten darauf achten, dass Ihr zukünftiger Ehepartner sich dafür interessiert, was andere Menschen denken. Es ist besser, sich zu viel, als zu wenig Gedanken darüber zu machen.
Unabhängig davon, wie groß der Nutzen des Errötens ist, wirft das Phänomen der hohen Sensibilität eine naheliegende Frage auf. Wie ist es den Hochsensiblen gelungen, den harten Ausleseprozess der Evolution zu überstehen? Wenn sich im Allgemeinen die Forschen und Aggressiven behaupten, wieso wurden die Sensiblen dann nicht vor Tausenden von Jahren aus der menschlichen Population eliminiert wie orangefarbene Baumfrösche? Denn vielleicht ist jemand wie der Held von The Long Long Dances tiefer als andere von den ersten Akkorden eines Schubert’schen Impromptus ergriffen, zuckt beim Anblick von Kriegsgräueln vielleicht stärker zusammen, war die Art Kind, das sich bei dem Gedanken, jemandes Spielzeug kaputt gemacht zu haben, innerlich schrecklich quälte, oder gehört zu den Erwachsenen, die leicht erröten, aber die Evolution belohnt so etwas nicht.
Oder etwa doch?
Elaine Aron hat dazu eine Vermutung. Sie glaubt, dass nicht das Merkmal der Hochsensibilität an sich im Laufe der Evolution aufrechterhalten wurde, sondern vielmehr die achtsame, reflektierte Mentalität, die sie meistens begleitet.
»Der ›sensible‹ oder ›reaktive‹ Typus verfolgt die Strategie, vor dem Handeln erst einmal gründlich zu schauen und auf diese Weise Gefahren, Misserfolge und Energieverschwendung zu vermeiden«, schreibt sie, »was ein Nervensystem erfordert, das speziell auf Beobachtung und die Entdeckung subtiler Unterschiede ausgelegt ist. Die Strategie besteht darin, ›auf Nummer sicher zu gehen‹ oder ›zu schauen, bevor man springt‹. Im Gegensatz dazu besteht die Handlungsstrategie des anderen Typs darin, Erster zu sein – ohne vollständige Informationen und mit den damit verbundenen Risiken ›den großen Wurf zu wagen‹, denn ›wer zuerst kommt, mahlt zuerst‹ und ›das Glück klopft nur einmal an die Tür‹.« 17
Tatsächlich haben viele Menschen, die Aron für hochsensibel hält, einige, aber nicht alle der 27 Eigenschaften, die mit diesem Merkmal in Verbindung gebracht werden. Vielleicht reagieren sie sensibel auf Licht und Lärm, aber
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