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freundlich. Aron hat festgestellt, dass hochsensible Menschen eher leise sprechen, weil auch sie es lieber haben, wenn andere auf diese Weise mit ihnen kommunizieren.
»Gewöhnlich«, bemerkt Michelle, eine Webdesignerin, die sich nach vorn lehnt, als würde sie sich gegen einen imaginären Windstoß stemmen, »sagt man etwas, und andere gehen darauf ein oder auch nicht. Wenn man hier etwas sagt, hakt jemand nach: ›Was heißt das?‹ Und wenn man jemand anderem diese Frage stellt, bekommt man auch eine Antwort.«
Natürlich gibt es auch Small Talk, wie Strickland, die Leiterin des Treffens bemerkt. Aber er steht nicht am Anfang des Gesprächs, sondern am Ende. Meistens benutzen Menschen Small Talk, um mit einem Fremden warm zu werden, und erst wenn sie sich wohlfühlen, lassen sie sich ernsthafter auf den anderen ein. Hochsensible scheinen umgekehrt vorzugehen. Sie »genießen oberflächliche Gespräche erst, nachdem sie eine Unterhaltung mit Tiefgang hatten«, sagt Strickland. »Wenn sensible Menschen Rahmenbedingungen haben, in denen ihre Authentizität genährt wird, lachen und scherzen sie genauso viel wie alle anderen auch.«
Am ersten Abend strömen wir in unsere Schlafräume, die in einem Gebäude untergebracht sind, das einem Studentenwohnheim ähnelt. Ich wappne mich instinktiv. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich lesen oder schlafen will, und stattdessen werde ich gleich gezwungen sein, eine Kissenschlacht zu machen (Sommercamp) oder an einem lauten und langweiligen Trinkgelage teilzunehmen (College). Doch auf der Walker Creek Ranch verbringen meine Zimmergenossin, eine 27-jährige Sekretärin mit großen Rehaugen und der Ambition, Schriftstellerin zu werden, und ich unseren Abend ganz genügsam damit, jede für sich Tagebuch zu schreiben.
Natürlich verläuft das Wochenende nicht völlig ohne Spannungen. Einige Menschen sind so reserviert, dass sie schlicht mürrisch wirken. Manchmal droht der »Jeder-macht-sein Ding«-Grundsatz zu kollektiver Einsamkeit zu entarten, weil alle ihrer Wege gehen. Es herrscht ein solches Defizit an lockerlässigem Sozialverhalten, dass mir der Gedanke kommt, dass jemand unbedingt ein paar Witze reißen, für ein bisschen Unruhe sorgen und Cola mit Rum austeilen sollte.
Die Wahrheit ist: Sosehr ich mich nach Luft zum Atmen für hochsensible Typen sehne, so sehr schätze ich auch die übrige Menschheit. Es ist zu einfach zu behaupten, dass die Kumpeltypen die Elefanten im Porzellanladen sind. Ich bin dankbar dafür, dass es die locker-lässigen Menschen gibt, und ich vermisse sie an diesem Wochenende. An der Stelle, an der sie gewöhnlich sind, klafft ein Loch im sozialen Gefüge. Ich fange an, so leise zu sprechen, dass ich von mir selbst den Eindruck habe, gleich einzuschlafen. Ich frage mich, ob es den anderen tief im Innern auch so ergeht.
Tom, der Software-Ingenieur, der wie Abraham Lincoln aussieht, erzählt mir von einer früheren Freundin, deren Tür immer für Freunde und Fremde offen stand. Sie war in jeder Hinsicht abenteuerlustig: Sie liebte unbekannte Gerichte, neue sexuelle Erfahrungen, andere Menschen. Die Beziehung ging in die Brüche. Tom sehnte sich schließlich nach einer Partnerin, die sich mehr auf ihre Beziehung zu ihm und weniger auf die Außenwelt konzentrierte, und mit einer solchen Frau ist er jetzt glücklich verheiratet – aber er ist dankbar für die Zeit mit seiner Exfreundin.
Während Tom redet, kommt mir der Gedanke, wie sehr ich meinen Mann Ken vermisse, der zu Hause in New York geblieben ist und auch nicht zu den hochsensiblen Typen gehört, ganz im Gegenteil. Manchmal ist das frustrierend: Wenn mich etwas zu Tränen rührt, sei es aus Mitgefühl oder Angst, ist er bewegt, aber er wird ungeduldig, wenn ich zu lange in dieser Stimmung bleibe. Doch ich weiß auch, dass seine robustere Einstellung gut für mich ist, und meist bin ich dankbar für seine Gesellschaft, die die beste ist, die ich je hatte. Ich liebe seinen mühelosen Charme. Ich liebe es, dass ihm immer interessante Geschichten einfallen. Ich liebe es, wie er sein Herz und seine Seele in alles hineingibt, was er tut, und in jeden, den er liebt, besonders unsere Familie.
Aber am meisten liebe ich seine Art, Mitgefühl auszudrücken. Ken kann aggressiv sein, aggressiver in einer Woche, als ich ein Leben lang sein werde, aber er setzt die Aggression im Interesse anderer ein. Bevor wir uns kennenlernten, arbeitete er weltweit für die UN in Kriegsgebieten, unter anderem
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