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als Unterhändler zur Freilassung von Kriegsgefangenen und Zivilisten. Er marschierte in übelriechende Gefängnisse und trat Lagerkommandanten mit umgeschnallten Maschinengewehren entgegen, bis sie sich einverstanden erklärten, junge Mädchen freizulassen, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als Frauen und Vergewaltigungsopfer zu sein. Nach vielen Jahren, die er mit dieser Tätigkeit zugebracht hatte, kehrte er nach Hause zurück und verarbeitete seine Erlebnisse in Büchern und Artikeln, die vor Wut strotzten. Er schrieb nicht im Stil eines hochsensiblen Menschen, und er machte viele Leute wütend. Aber er schrieb wie ein Mensch, der mit Leib und Seele Anteil nimmt.
Ich dachte, nach dem Wochenende auf der Walker Creek Ranch würde ich mich nach einer Welt der Hochsensiblen sehnen, einer Welt, in der jeder leise spricht und keiner den Knüppel schwingt. Aber stattdessen verstärkte es meine tiefere Sehnsucht nach einer Balance. Diese Ausgewogenheit ist, wie ich glaube, das, was Elaine Aron als unseren natürlichen Zustand bezeichnen würde, zumindest in den indoeuropäischen Kulturen wie der unseren, die sich ihrer Beobachtung zufolge seit Langem in die »aggressiven Draufgänger« und die »bedächtigen Ratgeber«, 25 in die Exekutive und die Judikative, in die forschen und leichtlebigen Franklin D. Roosevelts und die hochsensiblen und verantwortungsbewussten Eleanor Roosevelts aufgespalten haben.
KAPITEL 7
Warum die Wall Street zusammenbricht, während Warren Buffett immer reicher wird.
Und warum Introvertierte anders denken als Extravertierte
Tocqueville sah, dass der Lebenswandel unermüdlichen Tuns und Entscheidens, den der demokratische und geschäftsmäßige Charakter des amerikanischen Lebens mit sich brachte, ein raues und entschlussfreudiges Wesen, rasche Entscheidungen und das sofortige Ergreifen von Chancen begünstigte – und dass diese ganze Aktivität nicht förderlich für Bedächtigkeit, genaues Ausgestalten oder präzises Denken war.
Richard Hofstadter, Anti-Intellectualism in America 1
Kurz nach halb acht Uhr morgens am 11. Dezember 2008 klingelte das Telefon bei Dr. Janice Dorn. Der Aktienmarkt war im Laufe des Jahres zusammengebrochen. An diesem Morgen hatten die Börsen an der Ostküste gerade geöffnet und einen neuen Tag des finanziellen Blutbads eingeläutet. Die Immobilienpreise waren in den Keller gefallen, die Kreditmärkte eingefroren und General Motors taumelte am Rande des Bankrotts.
Dorn nahm den Anruf wie so oft in ihrem Schlafzimmer entgegen, während sie mit Kopfhörer und Mikrofon auf ihrer großen grünen Bettdecke hockte. In dem sparsam eingerichteten Raum standen ein Kleiderschrank aus Ahorn und sieben passende Bücherregale. Die Jalousien waren heruntergelassen, um die heiße Arizona-Sonne draußenzuhalten. Den stärksten Farbtupfer im ganzen Zimmer bildete Dr. Dorn selbst, die mit ihrem wallenden roten Haar, ihrer Elfenbeinhaut und ihrem schlanken Körper einer modernen Lady Godiva ähnelte, an Farbigkeit gefolgt von ihrer Büchersammlung, die von Titeln wie Neuroscience: Exploring the Brain über Ayn Rands Bestseller Atlas wirft die Welt ab bis hin zu The Woman’s Gourmet Sex Book reichte.
Dorn ist promovierte Neurowissenschaftlerin mit Spezialisierung auf Gehirnanatomie. Sie ist auch Ärztin mit psychiatrischer Zusatzausbildung, betätigt sich als Händlerin auf dem Goldterminmarkt und ist eine »Finanzpsychiaterin«, die geschätzte 600 Händler beraten hat.
»Hallo Janice!«, sagte der Anrufer an diesem Morgen, ein selbstbewusst klingender Mann namens Alan. »Haben Sie Zeit für ein Gespräch?«
Dr. Dorn hatte keine Zeit. Als sogenannte Daytraderin , die stolz darauf ist, innerhalb von einer halben Stunde einen Posten zu kaufen und zu verkaufen, wollte sie dringend an ihren Arbeitsplatz. Aber Dorn hörte einen verzweifelten Unterton in Alans Stimme. Sie erklärte sich bereit, mit ihm zu sprechen.
Alan war ein hart arbeitender, gestandener Sechzigjähriger aus dem Mittleren Westen. Er hatte die jovialen und selbstbewussten Manieren des typischen Extravertierten und behielt den Kopf oben trotz der katastrophalen Geschichte, die er vor Dorn auszubreiten begann. Alan und seine Frau hatten ihr ganzes Leben gearbeitet und es geschafft, eine Million Dollar für ihre Rente zurückzulegen. Doch obwohl Alan keine Börsenerfahrung hatte, war er vor vier Monaten auf den Gedanken gekommen, für 100 000 Dollar Aktien von General Motors zu kaufen, nachdem er
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