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sah. Dass ich nicht wusste, wie du aussahst, als du in den Kindergarten gingst, in die Schule, auf die Uni. Dass ich nicht wusste, wer deine Freunde waren und womit du dich gern beschäftigtest.«
Sam hört zu, als erzählte ihr jemand den Inhalt eines weitschweifigen Romans. Sie ist beinahe ein bisschen gelangweilt.
»Hätte ich mein jetziges Schicksal wählen können, Sam, ich hätte es abgelehnt. Ich wäre mit meiner Schwester zurück nach Coburg gefahren, hätte mich weiterhin gegen meinen Vater aufgelehnt, dich erzogen, versucht, meinen Weg zu finden. Aber ich hatte keine Wahlmöglichkeit. Ich stürzte über die Klippe und dachte in dem Moment: Mann über Bord. Das war mein einziger Gedanke, wie eine Assoziation, die sich auf tausendfache Wiederholung gestellt in meinem Hirn spiegelte. Ich schlug ins Meer und ging unter. Es tat wahnsinnig weh. Das Wasser war eiskalt. Ich riss die Augen auf und sah, wie die Sonne einen milchigen Kegel ins Wasser zeichnete. Ich kam hoch und schnappte nach Luft. Ging unter. Kam hoch. Viele Male. Mit meinen zerschmetterten Knochen klammerte ich mich am Dasein fest, solange ich konnte. Schließlich wurde ich ohnmächtig.«
»Sie hat dich gestoßen?«
»Muss wohl so gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern.« Grace seufzt. »Das klingt unglaubwürdig, aber für mein gemartertes, dem Tod gerade so entronnenes Selbst war dieses Detail anscheinend unwichtig.«
»Und dann?«
»Eine Welle muss mich zurück auf die Felsen geworfen haben. Man sagte mir später, das Meer wäre sehr aufgewühlt gewesen. Alle Strömungen führten vom Land weg. Ich wäre gestorben, wenn ich weiter im Wasser getrieben wäre. In einer Fischerkate kam ich zu mir. Eine Frau beugte sich über mich. Ich war schwer verletzt. Meine Hüfte und mein Becken waren gebrochen. Sie holten einen Arzt. Ich bekam Schmerzmittel. Ein Mann aus dem Dorf sprach Deutsch. Er übersetzte für mich. Erst später erinnerte ich mich nach und nach an unsere Reise. Im Nebel der Schmerzmittel und des Liegens und des Schocks kam die Erinnerung zurück, wer ich war. Grace May. Ich behielt die Wahrheit für mich und bat die Leute, die sich um mich kümmerten, der Polizei nichts über mich zu sagen. Mich zu verschweigen. Sie beruhigten mich. Im Dorf, so hieß es, gäbe es eine natürliche Abneigung der Polizei gegenüber. Noch aus Zeiten der Diktatur. Niemand würde mit den Beamten reden. Ich glaubte ihnen. Ich war zu verstört, voller Schmerz und Zweifel. Aber ich hatte mich entschieden.«
Mitleid kommt in Sam hoch. Es muss eine einsame Entscheidung gewesen sein.
»Die Frau, die mich pflegte, bis ich wieder aufstehen und erste Schritte gehen konnte, hieß Eleni Tsiadis. Sie war in meinem Alter. Eine einfache Frau voller Wärme und immer mit einem Lachen auf den Lippen. Sie hatte keine Kinder, hoffte jedoch, in absehbarer Zeit welche zu bekommen. Ihr Mann hatte mich gefunden und zu ihr gebracht. Ich sah ihn selten. Er war meistens auf dem Meer oder bei einer anderen Frau, die an Elenis Stelle Kinder bekam. Ich lernte Griechisch. Spielte mit den Silben und den unbekannten Endungen. Ich malte Buchstaben und machte etwas Neues daraus. Eine Landschaft aus einem Alpha, ein Boot aus einem Beta, irgendetwas. Ich hatte mein Selbstlabor gefunden.«
»Wie wurdest du zu Eleni Tsiadis?«
»Das war leicht. Nach einem halben Jahr, als ich ohne fremde Hilfe laufen konnte, kaufte ich Elenis Pass. Sie brauchte ihn nicht. Sie würde nie irgendwo hinreisen. Wir sahen einander sogar ein bisschen ähnlich. Damals war es in Griechenland möglich, von den Beamten, die mit dem Geburtsregister befasst waren, gewisse Dienstleistungen zu kaufen. Ich bekam meine Geburtsurkunde. Ich war Eleni Tsiadis.«
»Und die echte Eleni?«, fragt Sam atemlos.
»Die echte Eleni Tsiadis starb drei Jahre später an Krebs.«
Natürlich, denkt Sam. Es muss alles tragisch enden. Niemand darf davonkommen, niemand geschont werden.
»Ich hatte ein neues Leben. Ich war meine Familie losgeworden. Ich konnte mein Ding machen, meine Kunst leben, mich entdecken. Trotz der beständigen Schmerzen und der Behinderung. Ich lebte in Griechenland unter bescheidensten Bedingungen. Kein warmes Wasser, Strom vom Generator. Ich liebte es. Ich vermisste nichts. Nur die kleine Samantha. Die vermisste ich.«
»Ach.« Sam glaubt es und sie glaubt es nicht. Ob ihre leibliche Mutter sie wirklich vermisst hat, spielt keine Rolle. Es hätte an ihrem, Sams, tatsächlichem Leben nichts
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