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Nacht den Hafen verlässt. Sie riecht das frisch gemähte Gras im Nachbargarten. Wenn der Tag zu Ende geht, werden die Gerüche intensiver. Die Fliederbüsche senden einen betörenden Duft aus. Leise klirrt das Eis in Victorias Longdrink-Glas. Sam hat sich nicht gemeldet.
Victoria hat sich verrechnet. Sie hat kalkuliert, dass Sam anruft, sobald sie den Fliederstrauß und die Karte findet. Normalerweise ist Sam zuverlässig.
An Blancas Krankenbett sind sie einander aus dem Weg gegangen. Victoria trinkt ihren Gin Tonic wie Limonade. Sie ist durstig, der Ärger, den sie empfindet, entzündet eine unangenehme Wärme in ihr; ihr ist, als hätte sie Fieber. Ihre Augen sind leicht entzündet, das alte Übel, die allergische Bindehautentzündung, kündigt sich an. Sie muss daran denken, ihren Augenarzt anzurufen, damit er ihr die cortisonhaltigen Tropfen verschreibt, etwas anderes hilft nicht.
Robert ist nicht da. Er hat um fünf Uhr nachmittags angerufen, dass es spät wird.
In letzter Zeit wird es oft spät, aber es ist ihr beinahe egal.
Seit Sam mit dieser üblen Geschichte gekommen ist, ist ihr alles einerlei, was mit ihrem aktuellen Leben zu tun hat. Sogar die Vorfreude auf die Ausstellung versandet, und Victoria bemerkt es kaum. Nur die alten Geschichten erregen ihre Aufmerksamkeit, jener Frühling in Griechenland vor 30 Jahren und der regnerische Freitag ein gutes Jahr danach.
Was geschehen ist, ist geschehen. Es lässt sich nicht mehr aus der Wirklichkeit wegradieren.
Als Victoria eben in der Klinik anrief, hieß es, Frau Samantha May habe ihre Großmutter bereits abgeholt und nach Hause gebracht.
Blanca kann nicht allein im Haus bleiben, das ist Victoria klar. Was, wenn sie einen zweiten Schlaganfall erleidet? Victoria ist ihre Tochter, sie müsste dafür sorgen, dass Blanca eine Haushaltshilfe bekommt, dass täglich jemand von der Familie nach ihr sieht. Aber sie ist wie blockiert. Es schmerzt, dass Sam und Blanca sich gegen sie verbünden, so wie Grace und Isaac es früher getan haben. Wenn sie gemeinsam etwas ausheckten und Victoria nicht einweihten. Wenn sie zu zweit unterwegs waren, zu einer Ausstellung, einem Museum. Oder zu jener Malschule, damals, wo Grace Unterricht bekam. Victoria erinnert sich an ihre heißen Tränen, wie sie tagelang mit roten Augen herumlief, an Blancas Rockschoß hing und weinte, zuerst ehrliche, später künstliche Tränen, am Ende wusste sie nicht mehr, warum sie weinte, ob aus Enttäuschung, Trotz oder echter Verzweiflung. Sie hört noch heute, wie Blanca nach Erklärungen suchte. »Schau, Victoria, Grace ist älter als du. In ein, zwei Jahren geht Vater mit dir.«
Doch egal, wie viele Krokodilstränen Victoria aus sich herauspresste, Isaac unternahm nie etwas mit ihr.
Womöglich hat Blanca Sam schon eingeweiht, ihr alles erzählt. Aber Blanca weiß so vieles nicht. Sie ahnt nicht einmal etwas. Victoria klammert sich an den einen Gedanken: Dass Isaac der Einzige war, der misstrauisch wurde. Auch Robert dachte sich nichts. Er hatte gar keine Zeit für Skepsis, er war von der Firma total absorbiert. Sie stellten gerade das Sortiment um, bauten einen neuen Kundenstamm auf. Robert steht auf Victorias Seite, doch er tut es aus Gewohnheit. Blanca auch.
Es war ein Unfall, denkt Victoria. Sie trinkt den Gin Tonic aus und dreht das Glas um, die Eiswürfelreste fallen auf das Gras. Und Isaac hatte keine Zeit mehr, sein Wissen mit anderen zu teilen.
Victoria hadert mit der Tatsache, dass weder sie noch Blanca diese Übersetzung gefunden haben. Wegen der verflixten Ausstellung ist Sam auf die Suche gegangen und ausgerechnet über diesen Text gestolpert, den Victoria selbst nicht kennt.
Ich muss dringend mit Sam reden, denkt Victoria. Aber was soll ich ihr sagen?
Sie verspürt das Bedürfnis, sich zu verteidigen. Sie hat lediglich die Vorteile genutzt, die sich ergaben, Schicksal hin oder her, und daher ist eben sie eine bekannte Künstlerin geworden und nicht Grace. Weil Grace tot ist. Weil ihr Körper ins ionische Meer hinausgetrieben ist. Der Mensch ist sterblich, diese Tatsache hat Victoria zweimal geholfen.
Sie erinnert sich an John, der sie und Grace über den Peloponnes begleitete. Ein Amerikaner mit Absichten, der sich – wie sollte es anders sein – für Grace interessierte. Victoria hingegen trug ihren Ehering mit Stolz. John stellte seinen Wagen zur Verfügung. Er war ein paar Jahre jünger als Victoria, ein Jungspund, der die kulturell verarmten Vereinigten Staaten
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