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Sam legt eine neue Liste an, die sie mit ›Zu klärende Fragen‹ überschreibt. Außerdem besitzt sie schöne Aufnahmen von den verschiedenen Ateliers, in denen Victoria gearbeitet hat. Da war jener Sommer in Bayrischzell, wo Victoria malte, während Robert mit Sam und den Jungen wandern ging, sie ins Schwimmbad und zum Eisessen ausführte. Sam legt Papier und Stift weg. Diese Erinnerung an den Sommer in den Bergen überfällt sie geradezu.
Hatte ich eine glückliche Kindheit?, fragt sie sich. Trotz Victorias stahlharter Wände, die niemand einreißen konnte? Trotz ihrer ständigen unterschwelligen Warnung, zu funktionieren, nicht zu nerven, keine anmaßenden Forderungen zu stellen? Trotz ihrer fortwährenden Distanz, die sie brauchte, um sich ihrem künstlerischen Schaffen fernab der Welt zu widmen?
Sam versucht, sich Victorias Kindheit vorzustellen, ihre Gier nach der Liebe des Vaters, aber sie verliert den Faden, beschäftigt sich lieber mit der Ausstellung. Das Materielle, das sie anfassen, ordnen und sortieren kann, gibt ihr Sicherheit.
Um zwölf ruft sie Luna an. Sie muss mittlerweile wach sein. Luna schläft immer bis in die Puppen, vor allem, wenn sie in Sachen Mode auf Reisen war.
»Süße, ich wusste, du würdest dich melden.«
»Ach?« Sam lacht. Es ist eine Wohltat, Lunas vergnügte Stimme zu hören.
»Komm zum Frühstück vorbei, Darling. Dann erzähle ich dir alles.«
*
Sam kontrolliert, ob sie die Abfolge der Bilder korrekt notiert hat. Daraufhin räumt sie alles auf, abgekämpft und doch irgendwie erleichtert.
Als sie vor die Haustür tritt, überrascht der Tag sie mit einem warmen Wind, der die Äste der Platanen schüttelt. Der Frühling ist zurück, die dunklen Wolken haben sich verzogen. Ein paar weiße Schleier treiben unter dem Blau des Himmels entlang. Sam legt den Kopf in den Nacken. Ein Jet zieht lautlos zwischen den beiden Türmen der Morizkirche seine Bahn, silbern glänzend im Sonnenlicht, ohne einen Kondensstreifen mitzuschleppen.
Schüler quellen aus dem Gymnasium an der Ecke. Es ist Freitag. Das Geschrei und Geplänkel tönt ausgelassener als an anderen Tagen. Umsichtige Eltern steuern ihre Karossen durch die engen Gassen, um die lieben Kleinen sicher nach Hause oder gleich in den Wochenendurlaub zu transportieren. Die anderen Schüler schwärmen aus, Richtung Theaterplatz, wo die Stadtbusse halten, andere ziehen zum Marktplatz und in die Fußgängerzone. Sam schwimmt mit der Menge, die durch den steinernen Bogen des Münzmeisterhauses trabt.
In der Bank am Marktplatz checkt sie ihr Konto. Ein oder zwei Monate kommt sie aus. Danach wird es knapp. Bis dahin wird, muss ihr etwas einfallen. Anschließend kauft sie Brötchen beim Bäcker in der Rosengasse und besorgt Honig, Käse und Milch für den Fall, dass Lunas Vorräte spärlich ausfallen.
Der kurze Spaziergang zu Luna tut ihr gut. Luna hat ihr Atelier mitsamt Wohnung in einem mehrstöckigen Backsteinbau am Sonntagsanger, zwischen Bahnlinie und Frankenbrücke, in unmittelbarer Nähe der Stadtautobahn. Für Luna ist der Verkehrslärm kein Nachteil. Sie genießt es, den lieben langen Tag laute Musik hören zu können. Über ihr liegt eine Tanzschule, im Erdgeschoss eine Bar, deren heiße Zeit nicht vor 23 Uhr beginnt. Rund um die Uhr ist etwas los.
»Komm rauf, Sam«, schreit Luna in die Gegensprechanlage.
Sam nimmt den Lastenaufzug. Der alte Kasten zuckelt langsam in den vierten Stock hinauf. Sam hat den Eindruck, der Fahrstuhl stünde still und die kahlen Wände bewegten sich. Sie sieht an sich herunter und stellt fest, dass sie wie stets Jeans und Sweater trägt. Dazu Nikes. Eine trostlosere Designerin hat die Welt bisher nicht gesehen, denkt Sam selbstkritisch.
Mit einem Ruck bleibt der Fahrstuhl stehen. Sam stößt die Tür auf und geht die paar Schritte zu Lunas Ateliertür. Ein schräg aufgehängtes Schild gibt Auskunft, dass hier das Label Lu-Naht die Welt aus den Angeln hebt.
Luna fällt ihr um den Hals.
»Schande, was habe ich dich vermisst. Du wirst nicht glauben, was ich alles erlebt habe. Vertragsabschluss in der Hotelbar … die Skyline von Frankfurt! Wow!« Luna tanzt vor Sam her, die die Tür schließt und ihrer Freundin mit hängenden Schultern in die Küche folgt.
In Lunas Zuhause ist nur das Bad mit einer Wand und einer Tür abgetrennt. Alles andere ist ein einziger Raum, eingefasst von rohen Backsteinwänden. Lunas Bett befindet sich hinter einer Art Durchreiche, ist also wenigstens ansatzweise
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