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ansonsten unversehrten Tempel. Victoria analysierte stundenlang und füllte ihr Skizzenbuch, bevor sie die Fotos in einen Umschlag steckte und sie in einer Bank im Schließfach hinterlegte.
Ich muss das Schließfach auflösen, denkt Victoria. Sie geht zurück zur Terrasse, ihre Schritte federn auf dem weichen Gras. Gleich am Montag wird sie nach Würzburg fahren, das Kuvert nehmen und seinen Inhalt vernichten. Und sie muss sich um Sam kümmern.
Es darf nicht passieren, dass Sam mit ihrem frisch erworbenen Wissen Unsinn anstellt. Sam kann impulsiv sein wie ihr Großvater, und das muss Victoria unbedingt verhindern.
26
Sam verbringt das Wochenende bei Blanca. Ihre Großmutter wollte erst nichts davon wissen, aber Sam spürt, dass sie froh ist, nicht allein zu sein. Lucienne spielt die beleidigte Leberwurst, nachdem sie etliche Tage in ungewohnter Einsamkeit zubringen musste.
Sam gießt den Garten, während Blanca auf der Terrasse sitzt und zusieht. Luna kommt am Samstagmorgen und schleppt tonnenweise Lebensmittel herbei. Sie kochen zu dritt. Blanca blüht auf, lacht, schäkert, erzählt. Von dem Schlaganfall ist nichts zu spüren, sie kann sich bewegen, sprechen, sie ist konzentriert und wie immer. Sie wirkt sogar richtig erholt, als wäre sie zur Kur gewesen.
Sie sehnt sich nach Gesellschaft, denkt Sam. Ich könnte hier einziehen. Für eine Weile. Ich könnte meine Wohnung aufgeben und auf lange Sicht den ersten Stock ausbauen. Mir dort ein Atelier einrichten.
Am Abend redet sie lange mit Blanca. Berichtet von ihren beruflichen Sorgen und von Lunas Angebot, für sie zu arbeiten.
»Mach das!«, redet Blanca ihr zu. »Dir bricht dabei kein Zacken aus der Krone, und du machst Erfahrungen, die dir bei anderer Gelegenheit nutzen.«
In der Nacht denkt Sam darüber nach. Sie hat kaum eine andere Chance, wenn sie zu Geld kommen und im Geschäft bleiben will. Vielleicht können sie und Luna die Lu-Naht-Marke sogar gemeinsam ausbauen, Luna könnte für die Kleidung stehen und Sam für Dekoration, Küche und Bad, warum nicht? Womöglich, denkt Sam, lösen sich manche Probleme von selbst. Wenn nur die Ausstellung nicht wäre. Der ketzerische Gedanke keimt auf, die Ausstellung sein zu lassen, das, was sie bisher ausgearbeitet hat, bei Nikolaj abzuladen und sich auszuklinken.
Das kann ich nicht, denkt Sam.
Sie ist zu pflichtbewusst, das hat sie von ihrer Mutter übernommen. Ein Ja steht für ein Ja, Punktum.
Sam liegt lange wach in dem Gästezimmer neben Blancas Schlafzimmer. Als sie einschläft, träumt sie von Romans Händen.
Sie wacht auf, weil sie ein Geräusch hört. Panisch hebt sie den Kopf. Es ist Blanca.
Sie weint, leise, darauf bedacht, Sam nicht zu stören, denn die Türen stehen offen, die Fenster auch, und der sanfte Nachtwind scheint alle Klänge zu vervielfältigen.
Sam steht auf. Blancas trockenes Schluchzen macht ihr Angst. Sie geht zum Schlafzimmer ihrer Großmutter und klopft leise an den Türrahmen.
»Blanca?«
Blanca liegt auf der Seite, sie ist nicht zugedeckt, ihr Gesicht schmiegt sich in ihre Hand und ihr Körper zuckt im Rhythmus der Schluchzer.
Sam setzt sich auf die Bettkante. Sie war Blanca noch nie so nah. Sie war noch überhaupt niemandem jemals so nah. Sie legt ihre Hand vorsichtig auf Blancas Schulter. Blanca trägt ein ärmelloses Nachthemd, ihre Haut fühlt sich kalt an.
»Blanca!«, flüstert Sam. Der Moment kommt ihr trotz der Trauer friedlich vor. Als wenn sich etwas abspielt, das genau jetzt seine Stunde hat. Sie bleibt ruhig sitzen, während Blanca weint. Das Schluchzen ebbt ab, die Tränen kommen.
Sam stupst Blanca an: »Move over!«
Blanca rutscht ein Stück. Sam legt sich neben sie, zieht die Decke über sie beide. Sie liegt auf dem Rücken, Blanca bettet den Kopf auf ihre Schulter und die Hand auf ihren Bauch. Sams Hand legt sich auf Blancas. Sie blinzelt, sieht, wie der Wind die Gardinen bauscht.
»Ich habe alles falsch gemacht«, flüstert Blanca.
Sam sagt nichts.
»Ich habe immer versucht, beide Töchter gleich zu lieben; ich konnte es nicht. Ich habe Grace bevorzugt, unterschwellig, ohne es zu wollen, ohne einen wirklichen Grund zu haben. Grace war strahlender, und deshalb fiel es allen leicht, sie zu lieben. Vor allem deinem Großvater.« Blanca schweigt, und die Stille legt sich wärmend über die beiden Frauen. Schließlich fährt sie fort: »Victoria war wie Igor, weißt du? Knorrig, sperrig, hermetisch, schwer zu erreichen. Sie machte es einem schon als
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