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Titel: B00DJ0I366 EBOK Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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hinter sich gelassen hatte, um im alten Europa Inspiration zu tanken. Von Italien reiste er nach Griechenland in einem scheußlichen zweitürigen Fiat, in dem sie von dem heißen Luftstrom aus der Lüftung fast gegrillt wurden. Victoria schließt die Augen. Griechenland war wirklich eine Inspiration. Sie haben die Balladen von Mikis Theodorakis auswendig aufsagen können, griechische Musik im Auto gehört, auf Kassetten, die zu überteuerten Preisen am Isthmos-Parkplatz an Touristen verkauft wurden und die irgendwann nach vielen Kilometern auf staubigen Straßen rund um den Peloponnes ausleierten und zu quietschen anfingen.
    Ich war glücklich auf dieser Reise, denkt Victoria. Sie sieht Grace vor sich, wie sie malte, die Staffelei gegen den heftigen Wind mit schweren Steinen am Boden stabilisiert. Grace mit einem langen blauen Schal um den Hals. Wie John schwärmerisch um sie herumtanzte, außer sich vor Verliebtheit und Anbetung. Wie er das Objektiv auf Grace richtete, wieder und wieder, wobei Grace gar keine Notiz von ihm nahm. Wie Victoria auf einem Klapphocker im Schatten saß, mit Bleistift skizzierend, an der Abstraktphase festhaltend, während Grace die buntesten, wildesten Ölbilder malte. John fotografierte nicht nur Grace; er hielt vor allem ihre Gemälde auf Zelluloid fest. Er verschoss Hunderte von Filmen, um die Entstehung ihrer Malerei zu dokumentieren. Victorias Skizzenbuch vor die Linse zu nehmen, kam ihm nicht in den Sinn. Sie verachtete ihn wegen seiner Schwärmerei.
    Kurz vor dem Unglück zog John allein weiter. Er wollte unbedingt nach Delphi. Victoria und Grace hingegen hatten keine Lust, dem Peloponnes den Rücken zu kehren, und zudem ging ihnen der emsige John allmählich auf die Nerven. In seltener Einigkeit vereinbarten die beiden Schwestern mit ihm, sich zehn Tage später in Athen zu treffen, in einer Taverne auf der Plaka. Damit er Ruhe gab und sie ihn loswurden. Grace nahm huldvoll die Fotos entgegen und schickte sie nach Hause. Hatten sie je die Absicht, John noch einmal zu treffen? Victoria kann es nicht mit Sicherheit sagen. Zuerst waren sie schlicht froh, dass er nicht mehr ständig um sie herumschwänzelte. Sogar der sich allmählich Starallüren antrainierenden Grace war seine Verliebtheit auf den Keks gegangen.
    Aber Grace starb, und Victoria fuhr nicht nach Athen. Nie mehr. Sie kennt Johns Nachnamen nicht. Sie hat ihn vergessen. Bis Sam ihr das Foto zeigte. John mit seinen akkuraten Bügelfalten, die er selbst mit Hilfe eines komischen kleinen Reisebügeleisens in seine Hosenbeine plättete.
    Victoria erinnert sich, wie sie kurz nach Isaacs Tod auf Johns Fotos stieß. Grace hatte sie ihren Eltern überlassen. Sie lagen in einem schmuddeligen Kuvert, und Grace hatte ›For Mom and Dad‹ draufgeschrieben. Grace sprach fast immer Englisch mit Isaac. Sie betrachtete sich als zweisprachig, behauptete, das Englische sei ihr näher. Victoria hielt das für Angeberei.
    Ein Rascheln in der Hecke lenkt sie ab. Ein Tier drängt sich durch die Zweige, flitzt über den in der Dunkelheit fast schwarzen Rasen. Der Marder! Victoria lächelt, sie bewundert diesen selbstbewussten Mitbewohner, der sich durch nichts vertreiben lässt, auf dem Dachboden Rabatz macht und ein paarmal die Zündkabel in Igors Auto durchgebissen hat, eigentlich immer, wenn Igor sich nach Coburg bequemte. Sie rissen Witze darüber, dass der Marder Rostlauben mochte.
    Igor erinnert Victoria an sie selbst. Das unscheinbare Kind, das immer zwischen den strahlenderen steht. Das nicht den schwarzen Schopf der Mays geerbt hat, sondern ihr, Victorias, malvenfarbenes Haar. Ein Junge, der seine Talente nicht zeigen konnte, nie beachtet wurde und deshalb seine Konsequenzen zog und sich selbst unsichtbar machte. Was Victoria wiederum nicht kann. Igor ist ihr nah, näher als Nikolaj, und sowieso näher als Sam.
    Sie denkt an Johns Fotografien, die sie einfach einsteckte. Blanca fragte nie mehr danach. Falls ihr Gedächtnis nachließ, wenn sie sich die vielen Kleinigkeiten nicht mehr vor Augen führen konnte, so dachte Victoria mit der ihr eigenen Umsicht, brauchte sie ein paar Anhaltspunkte. Sie fuhr mit den Fotos nach Würzburg. Die fremde Stadt schützte sie.
    Dort setzte sie sich in ein Café und studierte jede einzelne Aufnahme in Ruhe. Sie verstand, dass Grace’ Bilder gerade keine Details aufwiesen. Besser gesagt: ein einziges Detail pro Bild. Einen Zacken in einer Küstenlinie oder eine halb eingebrochene Säule an einem

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