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vor Blicken geschützt. Genauso die Küche, die sich hinter einem Tresen verbirgt, auf dem Espressomaschine und allerhand andere Gerätschaften aufgebaut sind wie Armeen, die demnächst in den Kampf ziehen. Von hier sieht man direkt ins Atelier mit zwei Nähmaschinen, Stoffballen, einem großen Tisch, wo die Stoffe zugeschnitten werden, einem Schreibtisch, auf dem ein Computer Wache hält. Auf dem unebenen Holzboden liegen Flickenteppiche. Ziemlich viel Staub wallt auf dem Fußboden und tanzt in der von Sonnenstrahlen erhellten Luft.
»Du hast also abgeschlossen?«, fragt Sam. Sie findet selbst, dass ihre Stimme kraftlos klingt. Sie freut sich für Luna, wirklich, aber ihr eigenes Versagen scheint ihr im Licht von Lunas Erfolg umso vernichtender.
»Bingo. Und zwar nicht nur Blusen, sondern auch Kleider. Mein Traum. Sommerkleider! Hurrahurrahurra!« Luna tanzt Tarantella, packt Sam an den Schultern und drückt ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
»He, das ist toll!«
»Ist es. Es kommt eine Menge Kohle rüber, aber die Zeit wird knapp. Meine Prototypen müssen so schnell wie möglich nach Frankfurt. Und dann beginnt eine Leidenszeit. Den ganzen Sommer an der Nähmaschine sitzen – die Teile, die die Näherinnen fertigen, kontrollieren, anschließend die Produktion lostreten. Auf Urlaub kann ich, pardon, scheißen.«
Sam grinst. »Wo fertigen deine Vertragspartner?«
»Wo schon, Sri Lanka.«
»Immerhin.«
»Stimmt.«
Sie sehen einander an. Die Modewelt ist voller Widrigkeiten und ungerechter Bedingungen, doch gerade jetzt kann Sam nicht darüber nachdenken.
»Und du?« Luna macht sich an der Espressomaschine zu schaffen. »Gute Neuigkeiten, bitte!«
»Das wird schwierig.«
»Wie meinen?«
»Blanca hatte einen Schlaganfall. Meine Mutter hatte eine Schwester, die in Griechenland umgekommen ist. Mein Vater hat eine Affäre. Das Label hat meine Entwürfe abgelehnt. Ich habe einen Mann kennengelernt.«
Luna steht mit offenem Mund da, die eine Hand an der Espressomaschine, in der anderen hält sie ein Kaffeepad.
»Heiland Sack!«
Sam lässt sich in den Sitzsack fallen, der neben dem Tresen liegt. Zwischen ihren Händen fühlt sie die körnige Füllung.
»Nikolaj hat bisher keinen Strich für die Ausstellung getan. Meine Mutter will mit mir reden, aber ich kann nicht. Ich bin nicht mal imstande, sie anzurufen. Ich will ihre Ausflüchte nicht hören. Blanca wird wahrscheinlich heute entlassen. Ich habe Angst, sie allein in ihrem Haus zu lassen. Wenn ich nicht da gewesen wäre, als sie den Schlaganfall hatte, wäre sie vielleicht gestorben.« Sams Stimme wird immer leiser. »Wahrscheinlich bin ich schuld. Sie hatte den Schlaganfall meinetwegen.«
»Quark! Warum solltest du schuld sein?«
Sam berichtet. Von der Übersetzung. Wie sie Blanca ausfragte. »Ich habe sie zur Rede gestellt. Es war ein wahnsinniger Schock für sie, dass ich es herausgefunden hatte.«
»Deswegen kriegt man keinen Schlaganfall«, gibt Luna im Brustton der Überzeugung zurück. Auf dem Tresen röchelt die Espressomaschine. »Hör endlich auf, alles Miserable auf dich zu beziehen. Du bist einfach nur Sam und tust, was du kannst.« Sie balanciert zwei Tassen Espresso in den Händen. »Hier. Trink. Und was ist mit dem Mann?«
Sam lächelt. Klar, das interessiert Luna am meisten. Sie erzählt, von ihrer Radtour nach Meeder, von dem staubigen Zimmer, der vor lauter Papieren aufgeblähten Karteikarte, von dem Bier, das Roman ihr hinstellte und dem Zischen, als seine schlanken Finger den Kronkorken wegschnicksten. Sie holt die Übersetzung aus ihrer Handtasche. Luna, die ihren Espresso in einem Zug ausgetrunken hat, stellt die Tasse weg und nimmt die Papiere entgegen. Mit gerunzelter Stirn studiert sie den Text.
»Das ist nicht wahr«, sagt sie schließlich.
»Ist es doch.«
»Ein schlechter Scherz.«
»Unmöglich. Ich habe die Rechnung, die der Übersetzer gestellt hat, in einem alten Magazin bei Blanca auf dem Speicher gefunden.«
»Warum war die Rechnung ausgerechnet in einem alten Magazin? Du hast behauptet, deine Familie hätte alles vernichtet, was mit Grace zu tun hatte.«
»Laut Blanca schon. Sie müssen die Rechnung übersehen haben. Sie kann zufällig in der Zeitschrift gelandet sein. Papiere gehen manchmal seltsame Wege.«
»Hm. Hm. Hm«, macht Luna unzufrieden. »Willst du meine Meinung hören?«
»Sag endlich!«
»Das ist krank. Vollkommen irrsinnig. Die Existenz eines Menschen auszulöschen.«
Lunas deutliche Worte
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