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habe wirklich Neuigkeiten. Halten Sie sich fest: Ich habe den Bügelfaltenmann aufgestöbert.«
»Den Bügelfaltenmann?« Sam steht auf dem Schlauch.
»Na, den Mann in dem Auto hinter Ihrer Mutter und Ihrer Tante. Man sieht nicht viel von ihm, bloß ein Bein, eine präzise gebügelte Hose und einen Schuh.«
»Moment.« Sam massiert sich die Stirn. »Sie haben den Mann aufgetrieben, der 1982 in dem Auto saß?« Das muss sie erst mal verdauen.
Roman sieht sie triumphierend an. »Er heißt John Alexander Carrick aus Minneapolis, Minnesota, USA. 55 Jahre alt, Altphilologe und Journalist.«
»Wie haben Sie ihn gefunden?« Sam kommt so schnell nicht mit.
»Internet? Schwarmintelligenz?« Es klingt, als wolle Roman sich erkundigen, ob sie je von diesem Ding namens World Wide Web gehört hat.
Sam beißt sich auf die Lippen. Sie sagt lieber nicht, dass sie von der Intelligenz der Massen nicht viel hält, weil in ihrer Überzeugung Intelligenz immer etwas Individuelles ist.
»Ich führe ein Blog. Dort habe ich Ihre Geschichte gepostet und das Foto veröffentlicht. Dann habe ich in sämtlichen Social Media Links geschaltet und Aufrufe gesendet. Solche Aktionen vervielfältigen sich schnell, wenn sie in den entsprechenden Netzwerken auftauchen.«
Er redet weiter, voller Begeisterung, während die Bedienung ihnen die Eiskaffeebecher hinstellt. Sam betrachtet das Gebilde aus Kaffee, einem Sahneturm und einer dicken, karamellfarbenen Waffel.
»Sie haben meine Geschichte ins Internet gestellt?«
»Aber ja!« Romans vergnügter Gesichtsausdruck verdunkelt sich. »Heutzutage die beste Methode, um …«
»Nein!« Sam schreit beinahe. Ihre Stimme hallt unnatürlich in dem engen Innenhof. Gäste drehen sich zu ihr um.
Roman starrt Sam mit offenem Mund an.
»Um Himmels willen, nehmen Sie bitte sofort, unverzüglich die Story wieder raus! Und das Foto auch!« Die Hitze steigt ihr in die Wangen. Sam will nicht ungerecht sein. Doch der Gedanke, dass diese unglückliche, ungeklärte Familiengeschichte für jeden lesbar im Netz steht, bringt sie fast um den Verstand. Ihre Eltern werden sie umbringen. Der Schweiß bricht ihr aus.
»Ich habe sogar bereits Kontakt zu John Carrick aufgenommen«, protestiert Roman, »und er will sich mit uns treffen. Er lebt seit einigen Jahren in Mailand und ist bereit, noch heute mit der Abendmaschine nach Nürnberg zu fliegen. Wir könnten mit ihm essen gehen, und …«
Sam fühlt, wie ihr die Haarsträhnen an der Haut kleben, an den Schläfen, im Nacken. Ich will das nicht, denkt Sam. Das geht alles zu schnell. Gerade heute hat sie erst ein bisschen Frieden empfunden, und jetzt bricht abermals ein Krater aus Zweifeln und Panik in ihrem Inneren auf. Ich habe gehofft, er interessiert sich für mich, denkt sie. Dabei ist er nur auf eine Story scharf, darauf, irgendwo mitzumischen, obwohl ihn meine Familie nichts, aber auch gar nichts angeht.
Sie lässt den Eiskaffee stehen, schiebt den Stuhl zurück, steht auf.
»Ich kann nicht. Tut mir leid. Daraus wird nichts. Bitte nehmen Sie alles aus dem Netz.«
Tränen schießen ihr in die Augen. Sie läuft aus dem Café, hinaus in die helle Gasse, stürmt über den Marktplatz, will irgendwo hin, wo sie allein ist. Sie rennt, ohne einen Blick für die bunten Fassaden übrig zu haben, die im Sonnenschein noch fröhlicher aussehen als sonst.
In ihrer Wohnung setzt sie sich auf den Badewannenrand und weint, bis keine Tränen mehr kommen, nur noch harte, trockene Schluchzer.
Sie wäscht sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, gießt Tee auf und müht sich um einen klaren Kopf. Doch die stumme Qual lässt keine Konzentration zu. Sie muss zu Blanca, jetzt sofort, schnappt sich das Handy und will ein Taxi rufen, als ihr eine SMS auffällt. Von Roman. Sie muss den Klingelton überhört haben.
Tut mir leid, ich war wohl zu voreilig. Wenn Sie selbst mit Carrick Kontakt aufnehmen wollen, hier seine Mailadresse. Alles andere nehme ich aus dem Netz. Sorry. Roman.
28
Langsam beruhigt sich Sam. Sie sitzt in ihrem Bad, das keine Fenster hat und irgendwie immer feucht ist, trotz Absauganlage, und wartet ab, dass ihre Kräfte zurückkehren.
Sie will nicht, dass Außenstehende in dieser Geschichte herumrühren. Wer weiß, ob dieser John Carrick wirklich der Mann mit der Bügelfalte ist? Vielleicht ist er ein Typ, der sich wichtig machen will?
Wenn sie Roman nicht gebraucht hätte, um die Übersetzung zu finden, hätte sie ihn nie und nimmer eingeweiht; wenn sie
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