B00DJ0I366 EBOK
darauf starb Isaac, und Victoria warf die Familiengepflogenheiten über Bord. Sams Brüder bekamen russische Namen. Blanca missfällt dies noch heute, aber sie sagt nichts dazu.
Sam ruft Victoria an. Ihr Vater ist längst im Geschäft, doch ihre Mutter wird noch am Frühstückstisch sitzen, Musik hören, Strawinsky wahrscheinlich, und in irgendeinem Magazin lesen, bevor sie gegen Mittag ins Atelier geht.
»May?« Victorias Stimme am Telefon klingt meist scharf. Es ist, als schneide sie ihren Namen mit einem Messer aus der Luft.
»Hallo, Mutter. Hier ist Sam.«
»Ach, schon wach?«
»Und selbst?«
Sam wartet auf eine Reaktion. Im Umgang mit ihrer Mutter besteht immer die Frage, wer den längeren Atem hat.
»Du weißt ja, dass dein Vater um halb acht zu seinen Fliesen geht. Gibt’s was Neues?«
»Luna und ich haben gestern Abend an der Ausstellung gearbeitet.«
»Kommt ihr voran?«
»Das Konzept steht im Großen und Ganzen.« Es ist nur eine Notlüge, denkt sie.
»Ich hoffe, dass du bei der Auswahl der Fotos wirklich kritisch bist. Denk daran, die Öffentlichkeit bekommt Einblick in mein Leben. Wir müssen genauestens überlegen, was zu sehen ist und was nicht.«
»Natürlich, Mutter. Das haben wir doch besprochen.«
»Es schadet nie, heikle Dinge wieder in Erinnerung zu rufen«, entgegnet Victoria unbestimmt.
»In dem Zusammenhang hätte ich eine Frage«, beginnt Sam. Plötzlich ist sie nervös. »Luna und ich haben gestern ein Foto von dir ausgegraben. Du bist damals wohl 30. Es wurde irgendwo am Meer gemacht, aber wir können nicht einordnen, wo.«
»Steht nichts drauf? Kein Datum?«
Sam dreht die Aufnahme in den Händen. Gestern Abend, im Halbdunkel, hat sie die blassen Bleistiftlinien nicht gesehen.
»Tatsächlich! 1982.« Ihr Herz schlägt schneller.
»1982? Da war ich in Griechenland. Eine Inspirationsreise. Du warst ein Baby. In Mutters Obhut.«
Wo sonst, denkt Sam.
»Warst du allein dort?«
Täuscht sie sich, oder zögert Victoria mit der Antwort?
»Sicher. Warum fragst du?«
»Weil du auf dem Foto neben einer Frau stehst. Sie ist so groß wie du, etwa im gleichen Alter.« Sam beißt sich auf die Zunge. Sie sieht aus wie ich, will sie sagen, aber sie verschweigt es.
»Nun … vielleicht eine Reisebekanntschaft.«
»Könnte es eine Verwandte sein?«, fragt Sam.
»Eine Verwandte?« Victorias Stimme wird lauter. »Wie kommst du darauf?«
»Weil sie mir ähnlich sieht.«
»Das kann doch gar nicht sein!« Victoria macht eine Pause. »Du musst dich täuschen!«
»Luna ist die Ähnlichkeit auch aufgefallen.« Wenn Sam Luna ins Feld führt, widerspricht ihre Mutter selten. Sie hat großen Respekt vor Luna als Künstlerin.
»Nun … Das muss ein Zufall sein.«
Sam fühlt sich mit einem Mal müde. Sie hat ein altes Foto gefunden. Na und? Mitunter gibt es frappierende physiognomische Übereinstimmungen. Doppelgänger. Launen der Natur. Die Stille in der Leitung dehnt sich, wird länger und lauter.
»Ich muss Schluss machen, Sam. Vor mir liegt ein langer Tag.«
Ein langer Tag, denkt Sam, wenn du mittags ins Atelier gehst und herumprobierst. Kreide oder Acryl oder eines deiner Federbilder. Womöglich gehst du in den Hofgarten, um Zeug aus der Natur zu finden, das du integrieren kannst in irgendein Werk, auf das es nicht mehr ankommt. Jemand wird es kaufen oder auch nicht. Aber es spielt keine Rolle. Vater hat seine Firma saniert. Du kannst leben, Mutter, von deiner Kunst und Vaters Verdienst. Sie schämt sich ihrer Bitterkeit. Als Tochter sollte sie stolz sein. Stolz auf eine unkonventionelle, in bescheidenem Maß berühmte Mutter.
»Ich will dich nicht aufhalten. Einen schönen Tag!«
»Dir auch, Sam.« Victoria hängt ein.
Sam starrt in ihre Tasse. Der Tee ist längst kalt. Das Geschrei der Schüler vor ihrem Fenster ist verstummt. Warme Frühlingsluft strömt herein. Sie hört das Rascheln der Platanen, die die Pfarrgasse säumen. Misstrauisch mustert sie das Foto. Vielleicht hat ihr Gehirn ihr irgendeinen Streich gespielt. Vielleicht die Frisur der Unbekannten. Sam fährt sich durchs Haar. Schwarzes Haar. Wie Blancas Haar früher. Wie das Haar ihres Großvaters auf den Fotos, die bei Blanca im Haus hängen. Wie Nikolajs Haar. Sie erinnert sich, dass Großvater einen Bruder hatte. Pete. Auch er längst verstorben. Der Kontakt zu diesem Teil der Familie ist recht lebendig, gleichwohl auf E-Mails und Facebook-Chats reduziert. In ihrer Kindheit war Sam mit Eltern und Brüdern mehrmals
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