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bei Pete in den USA. Pete und seine Frau Barbara haben drei Töchter, diese wiederum jeweils zwei bis drei Kinder. Joanie, eine von Sams Großcousinen und in ihrem Alter, hat bereits zwei Söhne und stellt ab und zu Fotos von ihren Sprösslingen ins Netz. Sam klickt gewohnheitsmäßig auf den ›Gefällt‹-Button. Zu mehr Kontakthalten ist sie nicht imstande.
Sie schaltet den PC aus und zieht sich an.
Sie wird sich mit Blanca treffen.
3
Blanca wohnt am Festungsberg. Die Lage ist unpraktisch, wie Victoria sich auszudrücken pflegt. Der Hang ist steil, zum Einkaufen braucht Blanca den Wagen. Der Garten verzehrt sich nach Pflege. Gerade jetzt, im Frühling. Sam denkt, solange ihre Großmutter noch fahren kann und solange sie bereit ist, Geld für einen Gärtner auszugeben, ist es kein Schaden, wenn sie dort oben wohnen bleibt. Sam weiß, wie sehr Blanca an dem alten Haus hängt.
Sam nimmt den Bus. Sie ruft mit dem Handy bei Blanca an, um sich anzukündigen.
»Wunderbar, ich setze Tee auf«, sagt Blanca. In Sams Herz wallt Wärme auf. Blanca und sie – sie beide sind Zwillingsseelen. Behauptet Nikolaj manchmal, wobei er recht traurig aussieht, als wäre er gern die Zwillingsseele ihrer gemeinsamen Großmutter.
Sam weiß nicht einmal mehr, wann sie anfing, Blanca mit Vornamen anzureden. Sie muss ein Teenager gewesen sein, in der Phase der Aufwallung, des Infragestellens, des Wütens und Tobens. Zu jener Zeit stand Blanca wie ein Felsen an Sams Seite. Setzte Grenzen, diskutierte, respektierte. Damals wurde aus ›Großmutter‹ schlicht ›Blanca‹, was Victoria ihrer Tochter sofort auszureden versuchte, da es sich nicht gehörte. Heute, denkt Sam, als der Bus mit dröhnendem Motor den steilen Berg hinaufkriecht, würde ich Victoria nachgeben. Doch in der Pubertät gibt es Kräfte, die einem helfen, den eigenen Willen durchzusetzen. Sam grinst in sich hinein.
Sie steigt aus und geht das letzte Stück zu Fuß. Der Frühling ist zeitig gekommen in diesem Jahr, frisches Grün wohnt schon in den Bäumen, die Hecken der Anwesen blühen. Hier oben versteckt man sich gern in seinem Garten, unter alten Bäumen, hinter Rosenspalieren und anderem Grünzeug. Sam stößt das Gartentürchen zu Blancas Haus auf. Die Terrassentür steht weit offen. Sam macht sich nicht die Mühe, um das Gebäude herum zur Haustür zu gehen.
»Blanca?«
Blanca tritt auf die Terrasse. »Komm rein, Mädchen! Schön, dich zu sehen.« Sie küsst Sam auf beide Wangen. Sam riecht ihr Parfüm. Chanel N° 19. Seit eh und je. »Frühstücken wir zusammen?«
Sam frühstückt nie, seit Ralf gegangen ist. Sie hasst es, allein in ihrer Wohnung ein Müsli in sich hineinzuschaufeln, das ihr nicht schmeckt, und dessen klebriger Flockenpamps ihr im Hals stecken bleibt.
»Prima. Ich habe einen Mordshunger.«
»Ich auch. Bin seit sechs auf den Beinen.« Blanca geht ins Haus. Sam folgt ihr in die Küche. Sorgenvoll nimmt sie Blancas leichtes Hinken zur Kenntnis. Seit Jahren ignoriert ihre Großmutter ein Hüftleiden. »Aber du weißt, dass es bei mir keinen Süßkram gibt. Ich brauche morgens was Herzhaftes. Kannst du mit Ham and Eggs leben?« Blanca greift nach dem Pfannenwender und rührt temperamentvoll in der Eier-Schinken-Masse herum, die bereits in der Pfanne brutzelt. »Isaac liebte Ham and Eggs zum Frühstück. Na, wie du weißt, hat das Cholesterin ihn umgebracht.«
»Wenn es das Cholesterin war!«
»Kindchen, er starb mit 60. Einfach so. All of a sudden.« Blanca spricht mitunter ein Gemisch aus Deutsch und Englisch. Sam ahnt, dass sie es aus Nostalgie tut. Es war ihr typischer Umgangston mit Isaac.
»Schade, dass ich mich an Großvater nicht erinnern kann.«
»Nein, Liebes! Damals warst du noch eine halbe Portion.« Blanca füllt zwei Teller großzügig mit Ham and Eggs.
Ein Strauß bunte Tulpen steht auf dem Tisch, die Blumen biegen sich über den Rand der Vase. Die Sonne strahlt herein, beleuchtet die Familienfotos an den Wänden. Isaac und Blanca. Victoria und Robert. Victoria, Robert und die drei Kinder. Blanca mit der kleinen Sam und dem neugeborenen Igor.
Durch das gekippte Fenster klingt Vogelgezwitscher. Blancas Katze Lucienne, schwarz-golden getigert, schleicht um den Tisch, lässt sich gnädig streicheln und trollt sich.
Sam greift hungrig zu. Sie hat Schwierigkeiten, ihr Gewicht zu halten. Weil sie von daheim aus arbeitet, kommt sie kaum aus dem Haus. Vom Bett zum Computer zum Zeichentisch zur Nähmaschine und wieder zurück. Das
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