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ist ihr persönlicher Parcours. Verstohlen betrachtet sie ihre Großmutter. Sie trägt ein gemustertes Kleid mit tiefem Dekolleté, eine lange Kette aus knallgelben Kugeln, hat Lippenstift aufgelegt und ein wenig Lidschatten. Blanca ist füllig und weiblich. Auf eine Art schön, die im Alter noch strahlender hervorbricht. Mit einem Mal fühlt Sam sich schäbig mit ihrem Pferdeschwanz, in Jeans und Sweater.
»Iss ordentlich, Schätzchen. Der Mensch braucht Reserven für Notzeiten!«
Es ist, als könnte sie Gedanken lesen, denkt Sam.
»Luna und ich haben gestern für Victorias Ausstellung gearbeitet«, fängt sie an.
Blancas rechte Augenbraue hüpft ironisch. »Ach?«
»Wir haben die Fotos aus deinen Kisten gesichtet und eine Menge Dinge zusammen, die wir zeigen wollen. Wahrscheinlich wird aus den Familienbildern eine Videoinstallation mit Musik und Text. Nikolaj wird mir hoffentlich helfen. Wegen der Musik müssen wir das mit den Rechten klären.« Wie kompliziert alles ist! Wenn Sam an die vielen Dinge denkt, die sie für die Ausstellung noch nicht angepackt hat, wird ihr ganz schwindelig. Im Juni soll Eröffnung sein, vor dem Samba-Festival und allen möglichen anderen Events, die Coburg im Sommer überrollen.
»Du bist ein tüchtiges Mädchen, Sam!«
Sam zuckt die Achseln. »Mag sein.«
»Oben auf dem Speicher sind mehr Sachen. Bei Gelegenheit sehe ich sie durch, aber ich glaube kaum, dass noch was Interessantes dabei ist. Vor Jahren habe ich mal einen ganzen Schwung Krempel weggeworfen. Man kann nicht ewig in der Vergangenheit leben.«
Sam nimmt das Foto aus der Tasche. Das mit der Unbekannten.
»Hier. Mutter sagt, das Bild wäre in Griechenland aufgenommen worden. Aber sie kann sich nicht erinnern, wer die Frau neben ihr ist. Sie meint, vielleicht eine Reisebekanntschaft. Allerdings hat sie das Foto noch nicht gesehen, ich habe nur am Telefon mit ihr gesprochen.«
Blanca greift nach der Aufnahme. »Holst du mir meine Lesebrille, Kind? Drüben, auf dem Couchtisch. Danke.«
Die Gläser vergrößern ihre Augen ins Groteske. Blanca betrachtet das Foto. Erstarrt. Beißt sich auf die Lippen.
»Wer ist das?«, fragt Sam.
Plötzlich kommt ihr die Luft im Raum kühl vor. Blancas Gesicht zeigt keine Regung. Dann nimmt sie die Brille ab und fährt sich über die Augen.
»Ich dachte … nun … ich bin mir nicht sicher …« Sie steht auf und zieht die Pfanne von der Herdplatte. Der Geruch nach angebranntem Ei zieht durch die Küche. Blanca öffnet das Fenster weit. »Passiert mir ständig. Dass ich Sachen anbrennen lasse. Man soll nie zwei Dinge gleichzeitig machen.«
Sam zieht die Schultern zusammen. Weil ihr kalt ist, und weil sie sich schuldig fühlt. Sie hätte Blanca das Foto auch später zeigen können.
»Ich dachte, es könnte eine von meinen amerikanischen Tanten sein«, sagt sie rasch. »Von Petes Töchtern.«
Blanca steht immer noch am Fenster und sieht hinaus. Sie nestelt an ihrer Kette. Die Stille im Raum fühlt sich klamm an. Ich sehe ihr ähnlich, will Sam sagen, und das beunruhigt mich. Aber sie sagt nichts.
»Du weißt sicher, dass dein Großvater einen zweiten Bruder hatte. Nach Pete. Der Jüngste. Knapp zehn Jahre jünger als Isaac.«
»Ach?«
Blanca dreht sich um. Sie hält ihre Brille in der Hand und betrachtet sie stirnrunzelnd. »Himmel, wie schnell die Gläser verschmieren.« Sie macht sich an der Spüle zu schaffen. »Er heißt Fred und er lebt noch. Muss jetzt 76, 77 sein.«
»Nie gehört.«
Blanca lässt Wasser über ihre Brillengläser laufen. »Die Sippe ist alles andere als stolz auf Fred. Das schwarze Schaf. Muss es wohl in jeder Familie geben.«
»Was ist los mit ihm?«
»Fred hat dreimal geheiratet, fünf Kinder aus diesen Ehen und zwei außereheliche. Deine Urgroßeltern waren strenge Christen. Ehescheidung allein war für sie ein Unding. Und Ehebruch erst!« Blanca nimmt ein frisches Handtuch aus einer Schublade und reibt die Brillengläser trocken. »Fred hat also sieben Kinder. Und da Isaac und ich keinen Kontakt zu ihm hatten, schon zu Isaacs Lebzeiten, habe ich den Überblick über die Nachkommen verloren.«
Sam streicht sanft über die Kanten des Fotos vor sich. Sieben weitere Familienangehörige, vermutlich reichlich mit eigenen Kindern gesegnet. Eine schier unüberschaubare Herde. Ob Joanie davon weiß?, überlegt sie.
»Hast du dich nicht für Fred interessiert?«
»Was heißt interessiert …« Blanca setzt sich wieder an den Tisch. Sorgfältig legt
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