B00DJ0I366 EBOK
brauche dich als Vertraute, als Zeugin, als eine, die mitdenkt, zwischen den Zeilen liest.«
»Weiß ich.« Lunas Gesicht ist ernst, als sie eine Bluse endlich mit dem passenden Faltenwurf auf einen Bügel bugsiert und diesen zu den Schals an den Leuchter hängt. »Schick.«
Sam gibt zu: Es macht Spaß, zu dekorieren. Während des Studiums haben sie das oft gemacht, um ihr Budget aufzubessern. Ein paar Minuten arbeiten sie schweigend, die Handgriffe fließen, sie ergänzen sich perfekt.
»Willst du jetzt für mich arbeiten?« Lunas Frage schwebt durch den engen Raum.
Sam ist hin- und hergerissen. Sie muss dringend etwas zu tun haben, das sie von ihren Problemen und dem Familien-Hickhack ablenkt. Andererseits fürchtet sie, als Loser dazustehen, wenn sie auf Luna angewiesen ist.
»Wir machen das ganz offiziell mit Werkvertrag. Lust?«
»Ich habe Lust. Ich weiß nur nicht, ob ich zurzeit so kreativ bin«, rudert Sam zurück.
»Rede keinen Blödsinn! Du kannst doch mehr, als Zwergen Mützen aufzusetzen.«
Wenigstens hier muss Sam endlich eine Entscheidung treffen. Luna macht es ihr sogar leicht.
»Okay, ich mach’s, Luna! Danke!«
»Genial!« Luna fällt Sam um den Hals. Sie geraten in der Enge des Schaufensters ins Taumeln, fangen sich beide, lachen und gucken dann gleichzeitig auf die Straße hinaus. Dort steht Victoria. Sie hält sich im Schatten der Gasse, schaut scheinbar schon länger zu ihnen herüber.
»Shit«, stöhnt Sam.
Luna bückt sich nach der Schachtel mit den Glassteinen, die sie auf die kunstvoll am Boden ausgelegten Boleros und Stolen streut. »Na dann: an die Gewehre!«
Sam klettert aus dem Schaufenster, schlüpft in ihre Schuhe. Immer noch die Sneakers. Sie schämt sich ihrer Aufmachung, wieder Jeans, wieder ein Shirt, dazu ein simpler, abgetragener Cardigan, weil der Tag kühl ist.
Sie tritt auf die Straße.
»Hallo, Mutter.«
»Guten Abend, Sam.« Victoria trägt ein dunkles Kostüm und darüber ihren Trench. Sie drückt die Handtasche an sich, ihre Hände sind weiß, wirken fast durchsichtig. Offenbar hat sie sich schon lange in der Abendkühle herumgedrückt. Die Verletzungen in ihrem Gesicht kommen deutlicher zutage als kurz nach dem Unfall. Als habe ihr Körper endlich die Zeit gefunden, sich um sich selbst zu kümmern und Aufmerksamkeit zu erregen.
»Was gibt es?«, fragt Sam.
»Ich möchte mich gern mit dir unterhalten. Von Frau zu Frau. Können wir in ein Café gehen?«
»Okay.«
Schweigend gehen sie durch die engen Gassen. Erst als sie das Stadtcafé betreten und sich einen Platz im hinteren Teil suchen, sagt Victoria: »Bestelle, was du magst. Es geht auf meine Rechnung.«
Sofort hört Sam einen leisen Vorwurf. Dass Victoria sich zu zahlen verpflichtet fühlt, weil Sam so ein armer Schlucker ist. Sie ordert einen Cappuccino. Victoria schließt sich an. Sie warten, bis der Kellner ihnen die Tassen hinstellt.
»Ich weiß nicht, wie du über mich denkst«, beginnt Victoria. »Vermutlich habe ich das nie gewusst. Du kannst gut mit den Dingen hinter dem Berg halten.«
So kann man es sehen. Sam hätte wissen müssen, dass Victoria nicht als zerknirschte Bittstellerin kommt, sondern zum Angriff übergeht.
»Erzähl mir einfach, wie du selbst deine Bilder siehst«, bittet sie. Sie will nicht über ihre eigenen Befindlichkeiten reden.
Konfus rührt Victoria in ihrem Cappuccino. »Ich habe keinen Anlass, mich zu verteidigen.«
»Ich frage ja nicht nach einer Verteidigung, sondern danach, wie du deine Bilder interpretierst, in welchen Kontext du sie stellst. Wie soll ich deiner Meinung nach im Ausstellungsflyer deine Kunst beschreiben?«
»Die Ausstellung ist mir sehr wichtig, Sam.«
Genau, denkt Sam. Wenn ihr die Ausstellung nicht wichtig wäre, würde sie nicht hier mit mir sitzen.
»Mir auch. Selbst wenn du es nicht glaubst. Ich habe zu viel Energie reingesteckt, als dass ich sie verloren geben will.«
Angespannt blickt Victoria in Sams Gesicht, auf der Suche nach Ironie, aber sie findet nichts.
»Ich habe nicht plagiiert. Du kennst doch mein Werk! Ich habe viel mehr Bilder gemalt als Grace je die Zeit dazu hatte.«
»Ich bin nicht blind, Mutter. Und nach all den Vorbereitungen für die Ausstellung kenne ich dein Werk wahrscheinlich besser als jeder Experte.« Sam zwingt sich zu einem Lächeln. »Besser als du selbst. Natürlich hast du mehr geschaffen, als deine Schwester je konnte. Aber du hast keine einzige eigene Idee entwickelt. Du bist immer beim selben
Weitere Kostenlose Bücher