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sitzen. Mir war gar nicht bewusst, dass ich mit aufs Foto kam.«
»Haben Sie mit ihm später Kontakt gehabt?«
»Nein. Ich kenne nicht mal seinen Nachnamen. Er war älter als ich und ist mittlerweile wahrscheinlich vielfacher Großvater.«
»Haben Sie Kinder?«, fragt Luna.
»Nein. Ich habe nie geheiratet.« Verloren blickt John auf seine Hände, die auf der Tischplatte liegen, als gehörten sie nicht zu ihm. »Ich habe seit geraumer Zeit mit meinem Leben abgeschlossen. Keine neuen Pläne. Ich genieße, was kommt, und freue mich an den Möglichkeiten, die mir bleiben. Vor ein paar Jahren hatte ich eine Krebserkrankung. Alles ist noch mal gut gegangen, doch ich bin erschöpft und will und kann keine großen Sprünge mehr machen. Als ich Ihr Blog las, Roman, da flammten auf einmal die Erinnerungen auf. All die Gefühle jener Reise und … nun, ich hatte ja keine Ahnung, dass Grace in Griechenland ums Leben kam!«
»Haben Sie sich Hoffnungen auf meine Tante gemacht?«
»Auf Ihre Tante?« Er lacht. »Nein. Ach … nun, ich meine … doch, vielleicht ein bisschen.«
Luna lächelt ihm zu, hebt ihr Glas.
»Warum haben Sie nicht nach Grace gesucht? Warum haben Sie sich nie nach ihr erkundigt?«, drängt Sam.
»Aber das habe ich!« Entrüstet sieht John in die Runde. »Ich saß wie ein Tölpel in dieser Taverne auf der Plaka und niemand kam. Ich dachte zuerst, die beiden Teufelchen, diese Schwestern, versetzten mich aus Jux. Das hätte ihnen ähnlich gesehen. Sie haben sich öfter gemeinsam über mich lustig gemacht. Als nach Stunden niemand auftauchte, war ich wütend und traurig. Ich ging in meine Pension, wusste nicht, was schlimmer wäre: dass sie mich wirklich vergessen hatten oder mich einfach links liegen ließen. Es gab keine Handys, kein Internet. Man forschte nicht so leicht nach jemandem. Ich wusste nicht einmal, aus welcher Stadt Grace und Victoria kamen. Sie sagten nur, sie stammten aus Bayern, und Bayern ist groß. Verletzt und beleidigt wie ich war, klemmte ich mich erst Jahre später dahinter, nach Grace zu suchen. Ich dachte, irgendwo muss es früher oder später eine Ausstellung geben oder eine Galerie, die ihre Bilder verkauft. Eines Tages sprach ich mit einem Galeristen aus München. Der kannte keine Grace May, wusste jedoch, dass eine seiner Kolleginnen eine Künstlerin namens Victoria May unter Vertrag habe. In der Folge pickte ich Gerüchte auf, dass Victorias Schwester bei einem schrecklichen Unfall ihr Leben verloren hatte. Gleichwohl wusste niemand etwas Genaues.«
»Haben Sie sich Victorias Bilder jemals angesehen?«
»Nein. Sonst hätte ich früher diese … diese Ähnlichkeit bemerkt. Erst als ich Ihr Blog las, Roman, erst in dem Moment … alles stürzte über mir zusammen. Grace tot, mysteriöse Umstände, ich selbst auf dem Foto, das ich längst vergessen hatte. Ich suchte die Negative. Ich hing eine Nacht lang am PC und checkte, was ich über Victoria May finden konnte. Ich wollte nicht glauben, was ich sah.«
Roman fragt: »Was haben Sie jetzt vor?«
Sam hält den Atem an.
»Jetzt? Nun«, er sieht Sam an, »ich überlasse Ihnen die Entscheidung.«
»Welche Entscheidung?« Sams Herz klopft zum Zerspringen. Sie hofft, John würde in der Versenkung verschwinden, gleich hier, unter dem Tisch in den Boden sinken, nie mehr in ihr Leben treten und bitte die Ausstellung nicht gefährden. Bis zur Finissage müssen sie durchhalten, die Familiengeschichte weiterschreiben, Victoria hochleben lassen. Was danach passiert, ist für Sam unendlich weit weg.
»Es ist Ihre Entscheidung als Familie, Samantha, ob Sie aus den veränderten Vorzeichen Konsequenzen ziehen wollen«, antwortet John.
Veränderte Vorzeichen. Ein hübscher Ausdruck für ›Betrug‹.
»Was werden Sie mit Ihrem Wissen anfangen?« Das kommt von Luna.
»Nichts.« John zuckt die Achseln.
»Es wäre eine schöne Ausgangsbasis für eine Erpressung«, fährt Luna fort.
Das ist typisch für sie, denkt Sam fast liebevoll. Luna geht immer direkt auf ihr Ziel zu. Keine Umwege, schon gar nicht aus Höflichkeit.
»Erpressung?« Entgeistert begegnet John ihrem Blick. »Wen sollte ich erpressen?«
»Die Familie May.« Luna weicht ihm nicht aus.
»Bei allem, was recht ist!« John kramt ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche und wischt sich über die Stirn. »Ein Mann wie ich, der einmal dem Tod von der Schippe gesprungen ist, sieht die Dinge anders. Ich habe genug Geld für den Rest meines Lebens. Ich komme aus einer
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