B00DJ0I366 EBOK
Prinzip geblieben, das zu Beginn deiner erfolgreichen Jahre abstrakter war, später wieder konkreter wurde. Mehr war da nicht.« Was eigentlich nicht schlimm ist, fügt Sam im Stillen hinzu. Eine Künstlerin hat in frühen Jahren zu ihrem Rhythmus gefunden. Hätte Sam nicht selbst Grace’ Bilder gesehen, hätte sie diese Kontinuität nicht erstaunlich gefunden.
»Es ist mein Stil.« Victoria hat ihren Cappuccino nicht angerührt, sie dreht nur immerzu den Löffel durch den Milchschaum.
»Es ist eben nicht dein Stil. Es ist Grace’ Stil. Die Bilder, die du vor der Griechenlandreise gemalt hast, waren strenge, klare Abbilder dessen, was du gesehen hast. Im Prinzip fast naive Malerei. Nach Griechenland hast du anders gemalt. Keine tausend kleinen Details mehr. Sondern große Flächen, viel Farbe. Impasto. Wenige Linien, die das Bild einteilen. Vor allem keine wirklichen Konturen mehr, stattdessen angedeutete Strukturen, fast Sehhilfen.« Sam staunt selbst, wie viel Theorie ihr zu Victorias Bildern einfällt. Sie sollte sich die Stichpunkte notieren, um sie für die Ausstellung zu verwenden. Wenn es eine gibt.
»Diese alten Versuche, die sind noch aus den 70ern. Damit kann ich mich nicht mehr identifizieren, Sam. Mein Gott, naive Malerei!« Victoria ist leichenblass.
»Mutter, was ist los?«, fragt Sam alarmiert. Sie kann kein weiteres Familienmitglied gebrauchen, das vor ihren Augen zusammenbricht.
Victorias Lippen sind zu einem einzigen Strich zusammengepresst. Eine steile Falte bildet sich auf ihrer Stirn, tief eingegraben.
»Grace war immer die Bessere«, sagt sie tonlos. »Die Inspirierte, die Grandiose, die Strahlende.«
Sam wartet.
»Ja, ich mochte ihre Bilder. Als wir durch Griechenland reisten, lächelte ich über sie und die großflächig bepinselten Leinwände. Aber bald erkannte ich die Aussagekraft dieser Bilder. Grace war in einer Umbruchphase. Sie hatte sich von Laurenz getrennt. Mit ihm war sie eine Weile zusammen. Die große, heiße, innige Liebe und der Einzige fürs Leben.« Sie wirft Sam einen raschen Blick zu. »Laurenz war ein Kriecher, überhaupt nicht bindungsfähig. Erst machte er ihr den Hof, strich wie ein feister Kater um sie herum, bewunderte ihre Bilder und so weiter. Grace fiel drauf rein. Unser Vater mochte Laurenz nicht. Allerdings hätte er jeden Mann abgelehnt, der es wagte, seinem Darling nahezukommen. Laurenz machte gleichzeitig mit anderen Frauen herum, was Grace hätte wissen können, wäre sie nicht blind von seinen Schmeicheleien gewesen. Da war noch jemand anders als Vater, der sich zu ihrer Begabung äußerte. Als hätte sie nicht genug Lobpreisungen bekommen!« Victoria atmet tief durch. »Laurenz war ein selbstgerechter Schwindler. Er ließ Grace sitzen, und dabei war sie …«
»Dabei war sie was?«, fragt Sam.
Doch Victoria scheint weit weg zu sein. Nicht hier im Stadtcafé vor ihrem mittlerweile kalten Kaffee.
»Sie hatte jedenfalls eine richtig harte Zeit durchzustehen«, fährt Victoria endlich fort. »Künstlerisch kam sie nicht richtig voran. Grace war immer selbstbezogen und karrieresüchtig, eine Haltung, die unser Vater leider sehr bestärkt hat, und das machte sie arrogant. Das Desaster mit Laurenz war ein Einschnitt für sie. Ein Misserfolg. Zum ersten Mal lief etwas nicht so, wie Grace wollte. Zum ersten Mal richtete sich niemand nach ihren Launen und Wünschen. Für mich war das ein gewohnter Zustand. Ich war immer zweite Reihe hinter Grace, Sam. Ich musste kämpfen, um zu bekommen, was ich mir erträumte. Grace wurde alles nachgeschmissen.«
»Du warst eifersüchtig auf sie!«
»Natürlich. Schwestern sind das wohl immer.«
»Brüder und Schwestern auch.«
»Mag sein. Grace litt so sehr, dass sie mir trotz allem leidtat. Deshalb schlug ich die Reise vor. Erst in Griechenland fand sie die Kraft zu einem Neuanfang. Deswegen war der Unfall doppelt tragisch, wenn man das so sagen kann. Dass sie aus dem Leben gerissen wurde, als sie endlich wieder für sich eine Zukunft sah.«
»Ich hätte Grace gern kennengelernt.«
Victoria zuckt zusammen. »Tja«, macht sie nur.
»Grace malte sich frei auf eurer Reise. Bald darauf hast du das Potential in ihren Bildern erkannt. Und für dich vereinnahmt.«
»Es ist Ansichtssache, Sam.« Victoria legt endlich den Löffel weg und schiebt die Tasse von sich. »In der Kunst ist alles Interpretation, und niemand wird beweisen können, dass ich Grace’ Ideen gestohlen habe. Sie hat mich inspiriert. Können wir es
Weitere Kostenlose Bücher