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vergöttert, ohne im Entferntesten daran zu denken, sich für ihn bereitzuhalten.
Blanca sinkt auf ihren Stuhl zurück. Bei ihren Klassenkameradinnen galt Grace als arrogant. Heutzutage wäre sie die Klassenzicke, denkt Blanca seufzend. Es tut ihr heute noch leid für Grace. Isaac hat sie mit seinem Ehrgeiz, seinem brennenden Eifer verzogen. Die Erstgeborene, der er in der Sekunde verfiel, als er das Baby eine Stunde nach der Geburt zu Gesicht bekam. Grace, die friedlich schlummerte, unkompliziert war, viel lachte. Grace, die malte, mit allem auf allem. Isaac schimpfte nie über beschmierte Tapeten oder verdreckte Teppiche. Er ließ Grace machen. Er wollte sie fördern.
Blanca verbirgt ihr Gesicht in den Händen. Die Zweitgeborene, Victoria, kam für Isaac trotz ihres königlichen Namens nur unter »ferner liefen«. Er war so komplett von Grace eingenommen, dass kein Raum für ein zweites Kind war. Jedenfalls nicht für eine Tochter.
38
Sam und Luna stecken auf sechs Quadratmetern fest. Ständig stoßen sie einander an, treten sich gegenseitig auf die Zehen. Währenddessen redet Sam. Wie ein Wasserfall.
Es ist Freitagabend, 18 Uhr. Gestern hat Luna angerufen. Eine Boutique in der Coburger Innenstadt hat ihr den Auftrag erteilt, das Schaufenster neu zu dekorieren. In einer Blitzaktion haben die Freundinnen sich vor Ort umgesehen, ein Konzept gemacht. Jetzt hängen sie gerade einen pinken Lüster auf, den sie im Elektrogeschäft um die Ecke geliehen haben, und drapieren Seidenschals um seine Arme.
»Uff«, macht Luna, als Sam die ganze Geschichte losgeworden ist und mit einer Baskenmütze in der Hand unschlüssig dasteht. »Was sagt Blanca dazu?«
»Wir reden nicht darüber.« Sam stülpt die Mütze einer Zwergenfigur über, die Luna irgendwo aufgetrieben hat. Eine schlichte weiße Plastik mit allen Attributen des Gartenzwergs, aber ohne Zipfelmütze.
»Du wohnst bei ihr, und ihr redet nicht drüber?« Luna starrt Sam entgeistert an.
»Es ist, als müssten wir unsere Gedanken erstmal sortieren, für uns selbst klar kriegen, was da eigentlich passiert ist.«
»Na, dann sortiert mal schön.« Luna behängt den bemützten Zwerg mit einer Specksteinkette. »Ich will dir sagen, was da passiert ist: Deine Mutter hat die Gunst der Stunde genutzt. Sie war schockiert vom Tod ihrer Schwester, aber sie musste auch sehen, wo sie bleibt. Kann sein, dass sie hoffte, durch die Weiterentwicklung der Bilder ihre Schwester in ihre Karriere mitzunehmen – so rein geistig, meine ich.«
»Sie hat die Bilder nicht weiterentwickelt, Luna. Sie hat sie plagiiert. Ein Bild nach dem anderen. Sie hat nicht Grace’ Art zu malen übernommen und daraus Stück für Stück etwas Eigenes gemacht, sondern jedes einzelne Bild in einem leicht abgewandelten Stil neu fabriziert.« Düster fügt sie hinzu: »Sie ist eine Fälscherin.«
Luna dreht den Kopf. Vor dem Schaufenster stehen zwei Halbstarke mit Hosen, deren Hinterteile bis zu den Knien hängen, und glotzen dümmlich zu den beiden Frauen herein. Sie dreht den beiden eine lange Nase. »Und dein Vater? Hat der eine Meinung?«
»Dad redet nicht darüber.«
»Habe ich mir fast gedacht.« Luna zeigt den Halbwüchsigen den Stinkefinger.
Sam will sich verteidigen. Sie will eigentlich sagen: Dad redet nicht mehr mit mir. Er nimmt ihr zwar anscheinend nicht übel, dass sie über seine Affäre Bescheid weiß, aber dass sie Victoria dermaßen an die Wand gespielt hat, kurz nach dem Unfall, das kann er nicht hinnehmen. Die alten Automatismen, lebenslang verinnerlicht, greifen zu gut. Es ist das eingeübte Schema: Sag nichts Schlechtes über die Familie. Oder nichts, das andere als schlecht, einfältig oder überspannt bezeichnen würden.
»Nikolaj meldet sich auch nicht bei mir. Ich bin es leid, ihn anzurufen und sachlich klingende Nachrichten auf seinem AB zu hinterlassen.« Am liebsten würde sie ihn anschreien: Ich bin deine Schwester und ich habe den ganzen Mist allein am Hals. Die Sorge um Blanca, die Ausstellung, die Entdeckung von Grace’ Bildern, den Skandal … Ich würde reden wie Mutter, denkt Sam selbstkritisch. Ich würde mich genauso hysterisch und anklagend anhören wie sie.
Die beiden Scherzkekse vor dem Schaufenster fangen an, sich zu langweilen, und trollen sich.
»Ich möchte heute später am Abend John Carrick treffen. Roman kommt auch mit. Und ich möchte, dass du dazu stößt.«
»Roman kommt?« Luna grinst. »Prima. Bin dabei.«
»Das ist kein Spiel, Luna! Ich
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