B00DJ0I366 EBOK
herum. Sie war leichenblass.
»Himmel, Mutter, hast du mich erschreckt.«
»Was machst du hier?«
»Ich gehe ihre Sachen durch.«
Das wollte ich machen, schoss es Blanca durch den Kopf. Ihre Hände verkrampften sich, und die Nägel drangen so tief in das Fleisch ihres Handballens, dass sie aufstöhnte.
»Warum?«, brachte sie hervor.
»Jemand muss es tun, nicht wahr?«
»Ich wollte …«
»Das kann ich dir nicht zumuten, Mutter.« Victorias malvenfarbenes Haar umgab ihr Gesicht wie ein Schleier, bereit zu verbergen, was zu verbergen war.
Blanca war außerstande, etwas zu entgegnen. Noch heute fragt sie sich, warum sie nicht Einspruch erhob. Warum sie Victoria nicht das Haus verbot. Warum, warum, warum! Blanca steht im Gras und sieht den Wolken zu, die vom westlichen Ende der Stadt herantreiben.
»Why …«, begann sie, weil es ihr im Strudel der Gefühle leichter fiel, die fremde Sprache zu sprechen. Dennoch versagten ihr die Worte.
»Es macht mir nichts aus, wirklich, Mutter.« Victoria stand auf und klopfte sich den Staub von den Jeans. »Sam schläft, oder?«
»Sie schläft.« Blancas Stimme klang leblos, wie ein Rascheln.
In jenem Augenblick fasste sie einen Entschluss.
»Dein Vater und ich werden in dieses Haus ziehen.«
»Ach so?« Überrascht sah Victoria sie an. »Wann? Warum? Ich meine …«
»Du und Robert, ihr habt das Haus am Glockenberg. Eine gute Lage, Victoria. Aber für Isaac und mich wird es in der Innenstadt immer stressiger. Der Lärm, der Verkehr, das Getümmel … Hier oben werden wir es ruhiger haben. Außerdem, mit dem Garten hätte dein Vater etwas zu tun, weißt du?«
Sie dachte dabei, mein Gott, Isaac ist ja nicht zu alt für seinen Beruf. Doch seit Victoria allein aus Griechenland zurückgekehrt war, brachte er kaum noch etwas zustande. Wenige Reportagen, oberflächliche, leichte Sachen, die ihm gar nicht entsprachen. Isaac war ein Mann für die Hintergründe, für die offenen Fragen, die Widersprüche.
»Verstehe.« Victoria strich sich das Haar zurück. »Umso schneller müssen wir hier Ordnung schaffen.«
»Wir?« Blanca trat vor. Sie hatte sich wieder im Griff. Wenigstens äußerlich. Mit aller Autorität sagte sie: »Du hast hier nichts zu suchen, Victoria!«
Ihre Tochter sah sie an, verächtlich, aber da war auch Angst in ihrem Blick. Diese Angst, das Flattern der Lider, hat Blanca bis heute nicht vergessen.
Als Blanca zwei Tage später erneut zum Haus am Festungsberg kam, war der Speicher leergeräumt bis auf ein paar Kisten mit Fotos und Briefen. Sämtliche Skizzen, Bilder und sogar die vorgefertigten Passepartouts waren verschwunden.
Ich habe nie die Kraft gefunden, Victoria zur Rede zu stellen, denkt Blanca nun. Langsam geht sie zurück zur Terrasse. Die Fliesen sind kalt. Der Himmel hat sich zugezogen, ein frischer Wind vertreibt den Fliederduft. Sie sieht sich nach Lucienne um, aber die Katze ist nirgends zu sehen. Blanca schlüpft in ihre Clogs und geht ins Haus. Hier, auf dieser Terrasse, stand Sams Kinderwagen.
Wir haben es ihr nie gesagt, denkt sie, und jetzt ist es zu spät.
5
Sam geht zu Fuß heim. Sie nimmt den Umweg über den Hofgarten. Blank wölbt sich der Himmel über das Veilchental. Im Winter sind sie als Kinder hier gerodelt. Sie auf dem Schlitten, ihr Vater hinter ihr, Igor weit voraus. Victoria, abseits stehend, mit Nikolaj an der Hand. Wie ein frostiges Bruchstück fällt ihr die Erinnerung vor die Füße.
Sam weicht vom Weg ab und läuft über die Wiese, rennt fast den steilen Hang hinunter bis in die Senke, wo sie sich umdreht. Hoch über ihr thront die Veste Coburg. Eine einzige Wolke treibt über der Burg. Sie ist geformt wie ein Elefant, der seinen Rüssel nach oben reckt. Wie gern würde Sam den Tag hier draußen verbringen, Sonne tanken. Aber sie muss nach Hause, weitermachen mit Quilts und Kissen. Wenn sie bis Ende des Monats nichts vorweisen kann, wird ein anderer Freelancer den Auftrag kriegen.
Als Sam am PC sitzt, loggt sie sich zunächst bei Facebook ein. Es ist noch nicht Mittag, in den USA schlafen sie um diese Zeit. Nichtsdestotrotz schickt sie eine Mail an Joanie.
Hi Joanie,
bist du eigentlich in Kontakt mit unseren Großcousins und -cousinen aus Freds Linie? Habe erst heute von ihm erfahren.
Umarmung,
Sam
Seufzend macht Sam sich an die Arbeit. Mit der Inspiration ist es wie immer. Wenn sie sich erst einmal dahinterklemmt, bei der Sache bleibt, kommen ihr die Ideen. Es geht um die Winterkollektion fürs
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