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sich Victorias Willen gebeugt. In jenem Jahr zum ersten Mal. Und dann immer wieder. Sie hielt Sam in ihren Armen, als von der Reise nur eine zurückkehrte. Victoria.
Isaac hat es nie verkraftet, denkt Blanca. Sie atmet tief den Duft der Kastanienbäume ein. In ihrem Garten streiten Flieder und Jasmin darum, wer der Erste sein darf. Sie zieht die Schuhe aus und wandert langsam über das kühle Gras. Es ist windig, sie fröstelt. Lucienne kommt um die Ecke geschnürt. Mit ihren eisblauen Augen schaut sie Blanca an, streicht um ihre Beine und schnurrt. Blanca bückt sich zu ihr herunter und fühlt dabei ein Ziehen im Rücken.
Sie hat gedacht, sie würde ihren Verlust nie verkraften. Aber sie hat sich geirrt. Die Psyche des Menschen ist darauf ausgerichtet, durchzuhalten. Der Lebenswille ist stärker als jedes Gewicht, das einen herunterzuziehen versucht. Doch nicht allein der Wille, zu leben – auch die Entschlossenheit, nicht ständig zu leiden.
›Du bist stärker als ich‹, hat Isaac in der Anfangszeit oft gesagt. Und sich abgekapselt. Ging nicht mehr aus dem Haus. Interessierte sich nicht für die kleine Enkelin, die immer hübscher, immer lustiger wurde. Ein Kind, mit dem leicht umzugehen war. Sam war anpassungsfähig. Ist sie immer noch, denkt Blanca. Sie traut sich selbst nicht viel zu, aber sie ist perfekt ausgerüstet für dieses Leben.
Irgendwann fing Isaac an, in den Kisten auf dem Dachboden herumzugraben. Dokumente zu schreddern. Sie hat fast nichts retten können. In jenem Schicksalsjahr lebten sie und Isaac in einem herrschaftlichen Haus in der Mohrenstraße. Ehe sie bemerkte, was er stundenlang auf dem Speicher trieb, war es fast zu spät.
Blanca steht am Ende ihres Gartens. Das Gras ist hoch hier. Sie muss den Gärtner bestellen. Eine Spinne krabbelt ihre Wade hinauf. Sie schnippt das Insekt zurück ins Gras. Wie betörend der Jasmin riecht. Wie an jenem Nachmittag vor 30 Jahren, als sie hier heraufkam, um den Garten zu gießen.
Als hätte es sich gestern zugetragen, durchlebt Blanca die Begegnung mit Victoria an jenem Frühlingsnachmittag, als die Sonne Garten und Haus zum Strahlen brachte. Tatsächlich, sie weiß genau, die Hecke war schon gepflanzt, aber viel niedriger, und von der Straße aus konnte sie sehen, dass die Terrassentür offenstand.
Das irritierte sie. Sie rechnete nicht mit Victorias Anwesenheit. Doch es konnte niemand anders hier sein als ihre Tochter.
Sams Kinderwagen stand auf der Terrasse im Schatten. Das Baby schlief friedlich, das kleine Gesichtchen rosig und unwissend angesichts der Tragödie, die die Weichen seines Lebens gestellt hatte.
»Victoria?«, rief Blanca.
Keine Antwort. Das allein war zu jener Zeit Anlass für Blanca, in Panik zu geraten. Damals rief sie ihre Tochter jeden Tag an. Bis Victoria genervt in die Luft ging.
»Victoria?«
Blanca sieht sich ins Wohnzimmer treten. Ein gelber Teppich lag dort, und gelbe Raffrollos zierten die Fenster. Sie waren heruntergelassen, als Blanca hineinging, und ein seltsames gelbes Licht hing im Zimmer.
Victoria war nicht zu sehen oder zu hören. Blanca ging auf Zehenspitzen in die Küche, ins Esszimmer, ins Bad. Dann stieg sie die Treppen hinauf, rief nicht mehr, und heute, 30 Jahre später, überläuft sie Gänsehaut, wenn sie daran denkt, wie sie blitzartig ein unerträglicher Argwohn überfiel.
Im ersten Stock sah sie sofort, dass die Leiter zum Dachboden heruntergelassen war. Muffige Luft kroch aus dem Loch zu ihr herunter.
»Victoria?«, flüstert Blanca, während sie, in einem neuen Jahrtausend, barfuß im Gras steht. Der Schmerz, den sie tief in ihrer Seele vergraben hat, um weiterzuleben, für die Enkel, für Victoria, für Robert, bricht über sie herein. Sie krümmt sich. Eine Welle aus Trauer ist leichter zu verkraften, weiß Blanca. Man kann ihr mit Tränen nachgeben. Aber dieser Schmerz, diese verfluchte Panik …
An jenem Tag kletterte sie lautlos die Leiter hinauf auf den Dachboden.
Ihre Tochter Victoria hockte auf dem Boden und sortierte Bilder, Papiere und Fotos. Sie bemerkte Blanca nicht. Eifrig ging sie einen Stapel Skizzenbögen durch.
Blanca stand dort, unter der Dachluke, und beobachtete sie. Selbst heute kann sie nicht beschreiben, welche Gefühle sie in jenem Augenblick durchmachte. Angst, Entsetzen, Ungläubigkeit, Unverständnis. Nach langer Zeit, in der die Stille, nur unterbrochen vom Rascheln des Zeichenpapiers, sich ins Endlose dehnte, sagte Blanca:
»Victoria?«
Ihre Tochter fuhr
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