B00DJ0I366 EBOK
nächste Jahr. Das lange Vorausplanen in der Branche ist etwas, woran Sam sich nur schwer gewöhnen kann. Mitunter geht ihr der Überblick verloren. Im herrlichsten Frühlingswetter Wintersachen zu gestalten, scheint ihr kontraproduktiv. Doch sie hat keine andere Wahl. Die Kreativdirektorin verlangt etwas Urbanes. Landhausstil ist out. Sam entscheidet spontan. Gibt sich das Thema ›Amerika‹ vor. Rasch notiert sie, was ihr einfällt. Stars and Stripes. Wolkenkratzer. Freiheitsstatue. Auswandererschiffe. Prärie, Cowboys, Lassos, Mustangs, Marlboro, die Einfälle kommen immer schneller, sie schafft es kaum, mitzuschreiben. Als der Zettel vollgekritzelt ist, legt sie sich auf den Teppich, einen Stapel Konzeptbögen vor sich, und entwirft ein Plaid. In Blau, rot, weiß. Streifen und Sterne, ins Negativ verkehrt. Weißer Untergrund, blaue Streifen in der Mitte, rote Sterne, die das Plaid einfassen. Kritisch betrachtet sie die Skizze. Konventionell, würde Luna sagen. Vielleicht ja, vielleicht nein.
»Besser als nichts«, denkt Sam und setzt sich wieder vor den Computer, um ihren Entwurf in die Software zu übertragen.
Ihr Facebook Account ist noch aktiv. Eine rote ›1‹ leuchtet oben links. Sie klickt darauf. Eine Nachricht von Joanie.
Hi Sam,
wie schön, von dir zu hören. Erstaunlich, dass du von Onkel Fred bisher nichts wusstest. Ich sehe ihn öfter, er wohnt in Albany, wenn ich mit den Kindern in die Stadt will, schaue ich bei ihm vorbei. Er lebt mit einer Frau zusammen, die vier Kinder hat, aber nicht von ihm, von anderen. Sie ist dreißig Jahre jünger und tierisch in Onkel Fred verliebt. Meine Jungs und ihre sind dicke Freunde.
Sieh dir meine Fotos auf Flickr an. Da sind Bilder von Freds Kindern und deren Kindern dabei. Solltest du den Überblick verlieren, ich helfe dir gern weiter.
Umarmung,
Joanie
Sam lächelt, als sie sich durch Joanies Online-Alben klickt. Bilder von ihren Kindern, ihrem Haus in den Catskill Mountains. Joanie ist ein Jahr jünger als Sam und angekommen im Leben der Mittelschicht. Halbherzig sieht sie alle Aufnahmen durch, findet jedoch keine Frau, die annähernd aussieht wie die Unbekannte auf dem Foto.
Sam geht zum Kühlschrank, gießt sich ein Glas Riesling ein. Sie muss jetzt die Skizze in die Software übertragen, in ein paar Tagen will sie ihre Entwürfe an die Firma mailen. Kaum ist sie so richtig in ihre Arbeit vertieft, klingelt das Telefon. Es ist Victoria.
»Du kommst am Samstagabend?«, fragt sie ohne eine Begrüßung. »Wenn das Wetter hält, möchte dein Vater grillen.«
Sam fühlt sich matt und ausgebrannt. Plötzlich kommt es ihr vor, als könne sie nicht einmal mehr die Stimme heben, um laut und deutlich zu antworten.
»Ja sicher, Mutter.«
»Gut. Nikolaj will auch kommen. Mit seiner neuen Freundin.«
Sam seufzt leise. Nikolaj ist vorsichtig. Victoria hat schon einmal eine seiner Freundinnen zur Schnecke gemacht, und soweit Sam das mitverfolgt hat, gab es bisher zwei Frauen in Nikolajs Leben, mit denen es etwas hätte werden können.
»Übrigens habe ich heute Ralf beim Einkaufen gesehen.«
»Ach ja?« Sams Herz zieht sich zusammen.
»Schade, wirklich schade, dass ihr Schluss gemacht habt.«
Sam verdreht die Augen. Dieses Thema würde sie gern beiseitelassen. Ralfs Vater ist Geschäftsführer der Hava-Bank, und die haben Sams Vater unter die Arme gegriffen, um seine Firma zu sanieren.
»Wann soll ich bei euch sein?«, lenkt sie das Gespräch in sicherere Bahnen.
»So gegen sechs?« Victorias Vorschläge klingen immer wie Anweisungen.
»Gut. Bis Samstag dann.«
»Tschüss.«
Sam legt stöhnend den Hörer auf. Dass Victoria sie vor allem aus geschäftlichen Gründen gern weiter mit Ralf zusammen gesehen hätte, wurmt sie. Das Leben ihrer Mutter ist auf Praktisches ausgerichtet. Ein Wesenszug, der einer Künstlerin überhaupt nicht entspricht, findet Sam. Jedenfalls nicht dem Typ Künstlerin, der zu sein Victoria vorgibt. Ihr fällt die Ausstellung ein und dass sie ihr Konzept bisher immer noch nicht verfeinert hat. Dass sie heute bloß einen einzigen Entwurf für ihren Job geschafft hat. Keinen besonders guten.
6
Das warme Wetter schlägt am Ende der Woche um. Der April zeigt sein wechselhaftes Gesicht. Sam hat zwei weitere Entwürfe für einen Quilt und passende Kissen zustande gebracht, aber sie ist wenig begeistert. Zu öde, zu langweilig, irgendwie schon mal da gewesen. Sie stellt sich vor, wie die Kreativdirektorin reagieren, Originelleres
Weitere Kostenlose Bücher