Babel 1 - Hexenwut
Fensterläden geschlossen waren. In den Pflanzkübeln davor steckten vertrocknete Büschel, und es lag allerlei Unrat vor den Stufen, als hätte schon länger niemand mehr gekehrt. Auf dem Hinweg war es ihr nicht aufgefallen, aber jetzt sah sie die Spuren der Trostlosigkeit.
Das war Emmis und Friedrichs Wagen, deren Tochter ermordet worden war ...
Carla, die ihr Leben noch vor sich gehabt hatte ... die tanzen gewesen war und sich amüsiert hatte ... die vielleicht verliebt gewesen war ... die ungeduldig auf den Sommer gewartet hatte, damit sie im See baden konnte ...
... und die jetzt kalt und leblos in einer dunklen Box lag, ein Job für den Gerichtsmediziner, der nichts mehr von dem Mädchen zu sehen bekam, das Mo so gemocht hatte.
Obwohl Babel diese Leute nicht kannte, fühlte sie doch mit ihnen, und die Trauer, die diesen Platz einhüllte, übertrug sich auf sie. Sie konnte sie als ätzenden Schmerz im Brustkorb spüren. Die Toten wogen schwer, und nicht jeder Verlust wurde leichter mit der Zeit. Der gewaltsame Tod verlangte immer nach Sühne - wer wusste das besser als sie selbst? Hilmar hatte sie diese Sühne nie verschaffen können, sollte sie dann nicht wenigstens versuchen, jetzt zu helfen?
Du kannst vergangenes Unrecht nicht auf diese Weise ungeschehen machen, Babel, hörte sie die Stimme in ihrem Kopf, die in Wirklichkeit schon seit Jahren verklungen war.
Nein, aber ich kann zeigen, dass es mir leidtut.
Indem du dich auf eine Mördersuche begibst, als wüsstest du, was du tust?
Ist es nicht besser, etwas zu versuchen, als gar nichts zu tun?
Es bleibt also dabei, du hilfst den Plags?
Ja, es blieb dabei.
Sie sah sich um, ihr Motorrad stand noch dort, wo Mo es abgestellt hatte, nur saß jetzt ein schmächtiger Typ mit zotteligem, rot gefärbtem Haar und zerrissenen Hosen daneben. Zweifellos ein weiterer Plag. Als sie näher trat, roch sie den beißenden Geruch nach Zitrone. Der Kerl leckte nervös seinen rechten Mundwinkel, während er sie stechend anstarrte. Langsam trat sie neben das Motorrad.
Der Plag erhob sich und stellte sich so dicht an sie heran, dass sie zurückwich. »Mhm, eine Hexe«, sagte er und hob schnüffelnd die Nase. »Hexe ... Hexe ... ich erinnere mich ... als ich klein war ... Spinnenbein und Mittemachtsgrau ... im kühlen Tal... und der Baum wiegte sich sanft...« Er stutzte und schien in Erinnerungen gefangen - oder auf einem schlechten Trip.
Babel stand nicht unbedingt der Sinn nach einem Gespräch mit einem durchgeknallten Plag, aber als sie die Maschine anschieben wollte, griff er nach dem Lenker und zog daran. Wieder leckte er sich den Mundwinkel.
Na prima, genau das, was ich jetzt noch brauche!
»Was willst du?«, fragte sie.
»Dein Geruch ... du riechst nach Blau ...«
Vermutlich meinte er die magischen Energien. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Wangen eingefallen. Er sah aus, als hätte er seit Tagen keinen Schlaf mehr gefunden. Aber wahrscheinlich war er da hier nicht der Einzige. Die Energiewellen, die von ihm ausgingen, waren zittrig und schwach. Babel wusste nicht, was sie sagen sollte. Er machte einen verwirrten Eindruck.
Vorsichtig beugte er sich zu ihr und flüsterte: »Du musst aufpassen, Hexe ... nach dem Tod ... da ist nichts ... nur Leere ...«
»Interessant, aber ich hab jetzt wirklich keine Zeit, um über das Leben nach dem Tod zu diskutieren.« Sie wollte das Motorrad weiterschieben, aber der Plag rüttelte heftiger am Lenker.
»Du hörst nicht zu! Hexe, Hexe, Hexe ... alles ist leer.«
Plötzlich verzog sich sein Gesicht, und er stieß wimmernde Laute aus. Nervös schaute sie sich um, aber die anderen Plags blieben in ihren Wagen.
Gerade wollte sie vorsichtig seine Hand vom Lenker lösen, als sich hinter ihr die Wagentür öffnete und Mo die Stufen herabsprang. Er klopfte dem Mann auf die Schlüter und zog ihn sanft, aber nachdrücklich von ihr fort und hin zu den Stufen, wo er ihn nach unten drückte, bis sich der Plag wie ein nasser Sack fallen ließ und sitzen blieb. Er wiegte sich vor und zurück und stieß immer wieder das Wort »Leere« aus.
»Was ist mit ihm?«, fragte Babel.
Mo steckte die Hände in die Hosentaschen, sie konnte die Sorge von seinem Gesicht ablesen.
»Mit Peking geht's bergab. Er hat früher in Dresden gelebt. Seit sie die alte Eiche gefällt haben, um Messungen für die neue Waldschlösschenbrücke vorzunehmen ...« Er sprach nicht aus, was er dachte, blickte nur finster auf Peking. Doch seine Verärgerung
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