Babylon: Thriller
Boxhieb vor die Brust. Der Mann taumelte zurück, drehte das Messer jedoch gleichzeitig, sodass dessen rasiermesserscharfe Spitze Aris Handfläche traf und sie aufschlitzte. Blut sprudelte zwischen den Hautlappen der Wunde hervor.
Der Dieb hielt die Waffe locker in der Hand, bereit, den tödlichen Stoß auszuführen. Er glaubte, dass das Messer fähig war, Blut zu wittern. Genauso wie eine Wünschelrute Wasser aufspüren konnte, konnte das Messer die Position einer Arterie wahrnehmen und sie durchtrennen.
»Nein!« Samuel hielt die bereits in Tücher gehüllte Schriftplatte hoch. »Ich gebe sie Ihnen. Nehmen Sie sie. Lassen Sie sie am Leben.«
»Du bist alt. Du könntest mich sowieso nicht aufhalten«, meinte der Dieb spöttisch, während er seine Reisetasche hochhob und sie Samuel reichte. »Hinein damit!«
Samuel gehorchte.
Am Eingang entstand Unruhe, als eine Gruppe Plünderer eine Schubkarre durch die Türöffnung schob. Sie blieben bei dem sich bietenden Anblick wie angewurzelt stehen: Tomas wand sich auf dem Boden, während Ari erfolglos versuchte, den Blutstrom zu stoppen, der sich aus der offenen Handfläche ergoss.
Der Dieb schnappte sich seine Reisetasche und ging lässig zur Tür. Er richtete die Spitze seines Kampfmessers auf die Plünderer. »Platz da!«, sagte er.
Entsetzt ließen sie die Schubkarre stehen und wichen zurück. Der Dieb verschwand in dem dunklen Korridor hinter ihnen.
Draußen war die Nacht angebrochen. Leute hasteten hin und her, weiße Phantome im nächtlichen Dunkel, beladen mit Beutesäcken und Pappkartons. Ein Mann schleppte einen Computermonitor, dessen Kabel sich wie Luftschlangen um seinen Hals ringelten. Ein anderer zog ein Sofa hinter sich her, dessen Chromfüße tiefe Furchen ins Erdreich gruben.
Als sie endlich ihren Toyota erreichten, ließ Tomas sich wütend in den Fahrersitz fallen. Ari stieg ein und hielt sich die mit Verpackungsmull notdürftig verbundene Hand. Samuel nahm den Rücksitz und legte den Leinensack neben sich. »Jetzt kommt alles in Ordnung«, sagte er. »Das Schlimmste ist vorbei.«
»Was meinst du?«, bellte Tomas. »Das Ganze war ein totaler Reinfall!«
»Immerhin leben wir noch. Und das ist viel wichtiger.«
»Du solltest ihm gut zuhören, Tomas«, sagte Ari, »er hat nämlich recht.«
»Und außerdem«, fuhr Samuel in aller Ruhe fort, »habe ich ihm die falsche Inschrift gegeben. Die richtige Tafel befindet sich in diesem Sack. Fahr endlich los. Wir sollten schnellstens von hier verschwinden.«
In der Nähe von Tell al-Rimah, Irak
20. April 2003
Die Sonne genau über ihrem Kopf verriet Hanna, dass die Mittagsstunde angebrochen war. Die Hitze hatte ihren Körper völlig ausgelaugt. Ihre Augenlider brannten. Sie träumte von Wasser – von dem Gefühl kühler Flüssigkeit, die durch ihre Kehle rann, von schilfbedeckten Tümpeln am Rand des Tigris, von eiskalten Wassertropfen auf alten Felswänden. Sie war im Begriff, den Verstand zu verlieren, und sie wusste es.
Bei Tagesanbruch hatten raue Männerhände sie vor eine ausgehobene Grube geschleift. Sie hatten ihr die Arme auf den Rücken gedreht und sie an einen Pfahl gefesselt. Die Spaten und Schaufeln, die sie benutzt hatten, um die Grube zu graben und einen Erdhügel aufzuhäufen, der ihr bis zur Hüfte reichte, waren ihr anschließend vor die Füße geworfen worden.
Hanna beobachtete, wie die drei Männer zurückkehrten und sich bückten, um Steine so groß wie Kinderfäuste aufzusammeln. Jeder davon war groß genug, um eine blutende Wunde zu erzeugen, aber nicht so groß, um sofort tödlich zu treffen. Sie legten die Steine am Rand der Grube zu einem kleinen Haufen zusammen.
Einer der Männer trennte sich von der Gruppe und kam über den Abhang zu ihr herunter. Er war hager und hatte strubbeliges schwarzes Haar, das einen starken Kontrast zu seiner Haut bildete, die für jemanden, der so viele Stunden in der unbarmherzigen Sonne gearbeitet hatte, unnatürlich weiß war. Auf seinem linken Handgelenk war eine rote Tätowierung zu erkennen. Er zog ihr Kopftuch herab, sodass es sich um ihren Hals bauschte. Dann beugte er sich vor, bis sein Gesicht nur noch wenig Zentimeter von dem ihren entfernt war, und senkte die Stimme, so dass nur sie ihn verstehen konnte.
»Wohin haben Sie die Inschrift gebracht? Verraten Sie es mir und ich verschone Sie.«
Hanna sagte nichts, weil sie spürte, dass er log.
»Sie spüren die Hitze, nicht wahr, Hanna?« Er griff in eine Tasche und holte eine
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