Babylons letzter Wächter (German Edition)
ich vor Erschöpfung einzunicken drohte, kam ein neuer Wasserkübel. Die gleichen Fragen. Drängender, zunehmend aggressiver. Die Stimme flüsterte mir meine schlimmsten Ängste ins Ohr. Das dies erst der Anfang sein würde. Dass sie zu weit schlimmeren Dingen fähig waren, wenn ich nicht kooperierte.
*
„Meine Wahrnehmung hat sich wieder verändert.“
„ Kommt das schwarze Rauschen zurück?“
„ Nein, schlimmer. Weiße Flecken. Die toten Areale seines Verstands.“
„ Du hast doch gesagt, wir wären seine Augen. Dann erinnert er sich eben nicht an alles.“
„ Schlimmer, mein Freund. Teile seiner Festplatte sind unwiderruflich beschädigt. Durchgeschmorte Relais. Wer auch immer ihn in die Mangel genommen hatte, das waren keine Stümper!“
„ Warum glaubst haben sie das mit ihm angestellt?“
„ Sie wollten ihn auf Eis legen. Männer wie er werden der Politik schnell gefährlich. Was ich gesehen habe, klingt verdammt noch mal nach einer Gehirnwäsche.“
„ Warum haben sie ihn nicht umgelegt wie Kennedy?“
„ Ohne ihn konnte der Wächterkult nicht entstehen. Auch wenn sie eine seltsame Art hatten, ihre Dankbarkeit zu zeigen.“
„ Dann sag mir, welchen Sinn es macht, eine Religion zu schaffen, wenn man ihren Gründer wegsperrt.“
„ So konnten sie die Bewegung nach ihren eigenen Vorstellungen lenken. Ich denke der Wächter wäre entsetzt zu wissen, was aus seinen Lehren geworden ist. Er, der die Friedfertigkeit gepredigt hatte.“
„ Das beantwortet meine Frage nicht wirklich. Es gibt doch keinen Nutzen mehr für den echten Wächter.“
„ Visionen können das Leid der Menschen lindern. In den falschen Händen jedoch sind sie eine gefährliche Waffe.“
„ Ich kann mir nicht vorstellen, dass er lediglich ein Spielball der Mächtigen ist. Immerhin ist er so was wie der Jesusmann. Könntest du deinen Gott oder auch seinen Stellvertreter auf Erden einfach so wegsperren?“
„ Wenn du gerade vom Jesusmann sprichst. Ihm erging es nicht anders. Ein Unruhestifter, den die Römer ans Kreuz nagelten. Die Herrscher der damaligen Zeit. Allerdings entglitt ihnen nach seinem Tod die Kontrolle über die neue Sekte, genannt Christen.“
„ Sag mal, ist dir nie der Gedanke gekommen, dass er dir die Visionen nicht aus eigenem Interesse schickt? Wenn sie ihn gebrochen haben, arbeitet er vielleicht längst für sie. Dann werden wir in eine Falle gelockt!“
„ Du vergisst eines: Selbst wenn sie wissen, dass er ein Seher ist, kann er ihnen auch verschweigen, was er gesehen hat. Oder sie belügen. Auf falsche Fährten locken.“
*
Sie wechselten mein Gefängnis, wie es ihnen passte. Ich gewöhnte mich an die Augenbinde, die meine Verlegung begleitete. Die Verhöre kamen jede Nacht. Ich lernte ihre Fragen auswendig, lernte sie fürchten und lieben. Und je mehr sie meinen Kopf füllten, desto weniger blieb von mir übrig. Wenn ich überleben wollte, hatte ich keine Wahl. Ob sie mit meinen Antworten zufrieden waren, konnte ich nicht sagen. Jedenfalls ließen sie es mich nicht spüren.
Meine Erinnerungen verschwammen. Mein Leben kam mir immer irreeller vor. Die Vergangenheit wurde gelöscht. Übrig blieb die Gegenwart. Wie meine Zukunft aussah, vermochte ich mir nicht vorzustellen. Ich lebte von der Hand in den Mund. Mein Gedächtnis, löchrig wie ein Sieb. Erinnerte ich mich an Alzheimer. Sofern sich Menschen je an Alzheimer erinnerten. Jahre in Kellerräumen, je nach Laune des Folterknechts mit Elektroschocks oder Schlägen traktiert. Vergaß ich auch das Sonnenlicht. Bis zu dem Morgen, als ich in der sterilen weißen Zelle aufwachte. Der Blick in den Spiegel hatte mir einen alten Mann gezeigt. Konnte es sein, dass ich seit Jahrzehnten ihr Gefangener war? Mein Verstand ruhte in einer Art Wachkoma. War das weiße Zimmer wirklich neu für mich oder vegetierte ich hier schon seit Jahren vor mich hin? War nur mein Bewusstsein wieder erwacht?
Den Jungen war nicht bewusst, an was sie mich erinnerten. In ihrer unreifen Jugend mochte es wie ein Kinofilm wirken. Für mich aber war es die Welt. Die letzten Puzzlesteine. Ich würde nie mehr von mir zurückbekommen. Der Mensch der ich war, bevor ich zum Wächter wurde. Hatten sie mir geraubt. Und doch war ich erstarkt, gewachsen an jeder Erinnerung. Nun war mir klar, was Chase an mir fürchtete. Was er nicht verstand. Es war mein drittes Auge, was er mir neidete und welches er um jeden Preis bekommen wollte. Und wenn er es alleine nicht
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