BACCARA EXKLUSIV, BAND 64
nicht beunruhigt. Er machte es sich bequem.
„Sind Sie Ihrer Mutter ähnlich?“
Lucy trat nach einem Grasbüschel. „Äußerlich schon.“ Viel zu sehr, dachte sie. Sie musste fast lächeln, als sie sich an Ellies entsetzten Aufschrei erinnerte, als sie, Lucy, sich vor Jahren in der Küche die langen silberblonden Locken abgeschnitten hatte.
„Stehen Sie sich nah?“
Lucy gingen viele schöne Erinnerungen durch den Kopf. Wie die benachbarten Farmer einander halfen, wenn es viel zu tun gab, wie sie oft dicht gedrängt um den großen alten Tisch im Esszimmer saßen und fröhlich miteinander aßen. Thomas, ihr Vater, saß an der Stirnseite, vergnügter und glücklicher als alle anderen.
„Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie weggegangen ist.“
Ethan zog die Brauen hoch.
„Ich war damals acht. Sie brannte mit einem der Farmarbeiter durch.“ Sie schlang die Arme um sich. „Sie war zwanzig Jahre jünger als Dad“, ergänzte sie, als müsste sie es näher erklären.
In dem Schweigen, das folgte, beschlich Lucy das beunruhigende Gefühl, eben das Benehmen ihrer Mutter einem quasi Fremden enthüllt zu haben. Lange hatte sie ihren Freunden im Ausland die abenteuerlichsten Geschichten von einem wunderbaren Familienleben zu Hause aufgetischt.
Doch es erschien ihr nicht richtig, an diesem Ort zu lügen.
Ethan nickte. „Ihr Vater hat nicht wieder geheiratet?“
„Nein. Die Sache hat ihm sehr zugesetzt.“
Belles Verrat hatte die kleine Gemeinde, in der die McKinlays den besten Ruf hatten, tief bestürzt. Thomas McKinlay war ein angesehener Mann im Bezirk. Viele hatten ihm abgeraten, sich eine so junge Frau zu nehmen.
„Standen Sie denn Ihrem Vater nahe?“
Lucy zögerte. Nach seinem Schlaganfall konnte er ihr kaum sagen, dass er sie nicht hier haben wollte. Als ihre Mutter gegangen war, hatte er es in gewisser Weise getan. Er hatte sich weitgehend von ihr zurückgezogen, als sei sie es nicht wert, von ihm beachtet zu werden. „Eigentlich nicht. Nicht seit meiner Kindheit.“ Achselzuckend wandte sie sich ab. „Ich sah Mum allzu ähnlich.“
Sich die Haare abzuschneiden hatte nichts geändert. Dazu war ihr Vater viel zu verbittert gewesen. „Es war nicht seine Schuld. Er war todunglücklich. Gedemütigt. Vor seinem Schlaganfall vor sechs Monaten war ich kaum zu Hause, außer ab und zu für ein verlängertes Wochenende, denn ich war in einem Internat untergebracht.“
Es gefiel ihr, dass er keine abgedroschenen Floskeln des Bedauerns murmelte. Warum sollte es ihn kümmern, dass sie von ihren Eltern nicht geliebt worden war?
„Waren Sie gut in der Schule?“
Abgelenkt von seinem Interesse, ließ sie sich auf dem Felsen nieder, sorgsam auf Abstand bedacht. „Im Gegenteil.“ Sie grinste. „Ich war unglaublich schlecht.“
„In den Fächern oder im Betragen?“
„In beidem. Ich bin Legasthenikerin.“
„Darauf steht nicht der Galgen.“
Lucy reckte ihre Nase in die Luft und schlug einen hochgestochenen Ton an. „An meiner Schule nicht zugelassen. So etwas kommt bei höheren Töchtern auf einer Privatschule nicht vor. Wir Legasthenikerinnen wurden perfekt im Kaschieren.“
„Wie denn?“
„Indem wir frech waren.“
Wie die meisten Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche hatte sie sich alles Mögliche ausgedacht, um ihre Schwäche zu verbergen. Meistens gehörte dazu, in Schwierigkeiten zu geraten oder Leute zu umgarnen. Sie hatte viel gelacht, viel geschwatzt und festgestellt, dass Lehrer und Mitschülerinnen dabei übersahen, dass Hausaufgaben nicht gemacht, Examen nicht bestanden oder nicht abgelegt worden waren.
„Nicht ein Lehrer hat versucht …“
„Hören Sie, ich war das Kind reicher Eltern. Vermutlich dachten sie, ich käme klar. Wir Mädels aus besseren Kreisen schlagen ja ohnehin nur die Zeit tot bis zu unserer Traumhochzeit mit einem reichen Kerl, oder?“ Sie lachte. „Wer braucht da schon Bildung?“
Ethan zog die Knie an und schlang die Arme darum. „Gestern – Sie sagten, Sie hätten die Zeit verwechselt.“
Lucy verdrehte die Augen. Weil er ihr am Abend beigesprungen war, war sie nicht verlegen. „Sehen Sie, bei jemandem wie mir kommt es eben vor, dass aus dem offiziellen siebzehn Uhr sieben Uhr abends wird.“
Er nickte lächelnd. „Natürlich. Meine Schuld.“
Es war nett, das zu sagen, auch wenn es nicht stimmte. Dann fiel ihr ein, für wen er arbeitete. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Ethan. Tom kümmert sich um den ganzen
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