BACCARA EXKLUSIV, BAND 64
Bürokram, die Buchungen und so weiter. Gestern gab es einfach ein Missverständnis.“
„Ich mache mir keine Sorgen.“
Ein heller Lichtstrahl lenkte sie ab, und sie stand auf. „Die Sonne hat es geschafft.“
Ethan sah zu, wie Lucy an den Rand der Schlucht trat. Ihm fiel ein Song ein, der von einem armen reichen Mädchen handelte. Schönheit, Geld, Ansehen. Aber ganz so rosig war ihr Paradies nicht. Legasthenikerin und aufgewachsen ohne die Liebe ihrer Eltern. Vielleicht waren sie beide doch nicht so grundverschieden, abgesehen davon, dass sie trotz allem loyal zu ihrem anmaßenden Bruder stand und der Gleichgültigkeit ihrer Eltern Verständnis entgegenbrachte. Konnte er das auch?
Seine Reserviertheit seinem Vater gegenüber hatte sich in all den Jahren nicht gelegt. Lange hatte er die Enttäuschung seines Vaters einfach ignoriert, wenn er, Ethan, wieder einmal ein Essen im Familienkreis abgesagt hatte oder kurz nach seinem Erscheinen wieder gegangen war.
Er wusste, dass er es nicht wie Lucy vermochte, für einen Mann, den er nicht respektierte, Mitgefühl aufzubringen, nur weil dieser Mann sein Vater war.
„Sehen Sie!“ Ihr aufgeregter Ausruf riss ihn aus seinen Gedanken. Er ging zu ihr hinüber.
„Ein Regenbogen.“ Sie zeigte über das Tal.
„Wunderschön.“ Er trat näher. „Bis wohin reicht denn Ihr Land?“
Lucy beschrieb mit dem ausgestreckten Arm einen weiten Bogen. Sie standen hoch über dem Tal, in der Ferne die Alps. Es war keine Postkartenidylle, dafür war die Gegend zu wild. Die Berge bildeten einen krassen Gegensatz zu dem sich dahinschlängelnden Fluss. Die nahe gelegenen Gebirgsausläufer waren sanfter und hatten ihren eigenen Reiz mit den wie hingetupft wirkenden Waldflächen in Dunkelgrün.
Ethan konnte sich nicht sattsehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war so ganz anders als die Landschaften, die er kannte. Er war es gewohnt, Land zu zähmen. Das war sein Beruf. Aber die Gegenden, die Touristen anzogen, waren friedlich und still. Hier dagegen herrschte raue Wildheit vor.
Mit zwölf war sein großer Traum, eines Tages Farmer zu werden. Das Land, auf dem er aufgewachsen war, war schlechter, trockener Boden, der einen entmutigte. Er und sein Vater hatten ihn nicht retten können. Irgendwie hatte er das seitdem wieder gutmachen wollen.
Und die Zeit dafür würde kommen. Sobald Turtle Island unter Dach und Fach war, hätte er den Rest seines Lebens Zeit, nach dem perfekten Stück Farmland zu suchen, der perfekten Frau, und konnte sich daranmachen, zu beweisen, dass er ein besserer Farmer, Ehemann und Vater war als sein eigener Vater.
Ethan sah Lucy an. Der Wind, der hier am Rand des Abgrunds stärker wehte, zerzauste ihr hellblondes Haar. Es schimmerte in der blassen Morgensonne, und er konnte nicht an sich halten – er, der in jeder Situation die Kontrolle behielt, der nie seine Ziele aus den Augen verlor. Er streckte die Hand aus und berührte ihr Haar, und sie schrie vor Überraschung leise auf.
Ihr Gesichtsausdruck war unglaublich, eine Mischung aus Stolz und inniger Verbundenheit mit diesem Stück Land, das ihr gehörte. Sie schien ein Teil davon zu sein. Der blaue Dunst der Berge spiegelte sich in ihren Augen wider, der Silberglanz des Gerölls und der Felsen auf ihrem Haar. Sie bewegte sich graziös wie ein sich im Wind wiegender Baum. Sie würde sich den wechselnden Jahreszeiten anpassen, den Rhythmus der Natur verstehen, und das bewunderte er – wollte es auch –, weil er und sein Vater so entsetzlich versagt hatten.
Wie hypnotisiert näherte er sich ihr weiter, überlegte, ob sie merkte, dass er sie küssen wollte. Er strich mit den Fingern durch ihr Haar. Mit der anderen Hand zog er sie sacht am Revers ihrer Jacke zu sich.
Lucy wich nicht zurück.
Oh ja, ich werde dich küssen, Lucy McKinlay, dachte Ethan. Mochte das falsch sein oder nicht. Er musste seinem Instinkt einfach folgen.
Langsam senkte er den Mund auf ihren, und der erste Kontakt mit ihr ließ ihn noch behutsamer vorangehen. Es bestand keine Eile. Er würde sie nach allen Regeln der Kunst küssen.
Mit der Zungenspitze strich er über ihren kleinen Mund, kitzelte die Vertiefung in der Mitte ihrer Oberlippe. Ihre Lippen waren kühl von der Morgenfrische und unglaublich weich. Er verführte sie dazu, sie zu öffnen. Er musste an die fließenden Blau- und Grüntöne ihrer Kleidung am vergangenen Abend denken, als sie die Gäste bedient, sich vorgebeugt und wieder aufgerichtet hatte, lächelnd und
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