BACCARA EXKLUSIV, BAND 64
die mehr als hundert Jahre zurücklagen, als wären sie erst gestern passiert. Das hatte sicherlich mit der mündlichen Überlieferung der Geschichten zu tun. Sie hatte einmal einen Kursus über dieses Thema belegt. Jetzt hatte sie es zum ersten Mal authentisch erlebt.
Oh, es war ja so aufregend! Material hatte sie genug, aber sie würde noch viele Nachforschungen anstellen müssen. Sie würde sich einen Computer kaufen. Sie würde …
Lyon drehte sich auf den Rücken und zog sie dabei mit sich, sodass sie nun auf ihm lag, das Gesicht an seinen Hals geschmiegt. Er duftete so gut nach … nach Mann. Es war berauschend … Wo war sie stehengeblieben? Ach, ja, sie würde einen Computer kaufen und …
Er war nackt bis auf den Slip, was bedeutete, dass sie überall, wo sie ihn berührte, nackte Haut spürte.
Konzentrier dich, Jasmine! Es gibt ein Leben nach dem Sumpf.
Es gab da nur ein kleines Problem. Und das schnurrte im Moment in regelmäßigen Abständen in ihr linkes Ohr. Ein Problem namens Daniel Lyon, hart wie Stahl, einzelgängerisch und spröde wie ein Trapper, undurchschaubar wie ein Pokerspieler. Auch wenn sie dreitausend Meilen von ihm entfernt wäre, würde sie nicht aufhören können, an ihn zu denken. Sie kannte diesen Mann erst knapp eine Woche und war dennoch total hingerissen von ihm, schrecklich verliebt und eindeutig so voller Begierde wie noch nie zuvor.
Und das war ein eben doch nicht so kleines Problem, denn – nomen est omen – Lyon war kein Raubtier, das sich zähmen ließ.
Sie hätte es besser wissen müssen. War sie nicht alt genug, und lebte sie nicht in einer Umgebung, in der sie längst alles über Männer gelernt habe müsste? Sie war doch nicht naiv. Welche Frau konnte sich heutzutage erlauben, naiv zu sein?
Dumm – ja, das war etwas anderes. Bei Eric war sie ganz einfach dumm gewesen, hatte in ihm nur das gesehen, was sie sehen wollte. Sie waren sich bei einem Casting, oder genauer, auf der Party danach begegnet. Er war immer in ihrer Nähe geblieben, obwohl er ja mit einer Klientin da gewesen war, die er später auch nach Hause gebracht hatte. Sie hatte sich da keine Hoffnungen gemacht.
Am nächsten Morgen, sie hatte gerade ihr Frühstück aus Joghurt mit Weizenkeimen gegessen, rief Eric sie an. Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt. Eric sah gut aus, und er war erfolgreich. Er arbeitete für eine der bekanntesten Künstler-Agenturen und hatte gerade eine Affäre mit Karen Lakehurst gehabt, die einst mit Scott Walton verheiratet gewesen war, der einmal drei Jahre hintereinander als bester Schauspieler ausgezeichnet worden war.
Nachdem sie und Eric dreimal zusammen ausgegangen waren, hatte ihre Fantasie Kapriolen geschlagen. Sie hatte davon geträumt, mit Eric ein Haus zu kaufen, nicht allzu groß, aber hübsch und vielleicht in der Nähe einer Grundschule. Sie hatte davon geträumt, Designerkleider zu tragen anstatt Klamotten aus der Secondhand-Boutique.
Vergessen wir den Oscar, es lebe der Pulitzer-Preis!, sagte sie sich nun.
Schließlich hatte sie viele Jahre in ihre Ausbildung zur Journalistin investiert, wesentlich mehr als in ihre Schauspielkariere. Es war eindeutig an der Zeit, mit dem wirklichen Leben anzufangen.
Mittlerweile war draußen vor dem Zelt die Morgendämmerung aufgezogen mit allen Geräuschen, die dazugehörten. Vögel zwitscherten und krächzten, Insekten summten.
„Lyon? Lyon, wach auf!“
Keine Antwort. Er regte sich nicht. Tat er nur so, als ob er noch schliefe? Sie wusste nur eins: Es hatte keinen Sinn, noch länger hier herumzuliegen und zu träumen. Das brachte sie nicht weiter. Genauso wenig wie Lyons Arm um ihre Taille, sein Atem an ihrem Ohr, seine Beine zwischen ihren Beinen und sein …
Hmm, das auch nicht.
Wenigstens hatten sie nicht wieder miteinander geschlafen. Sollte sie deswegen nun erleichtert oder enttäuscht sein? Auf jeden Fall musste sie unbedingt hier heraus, bevor er merkte, dass die Kontrolle nur noch bei ihm lag. Ihre drohte sie nämlich zunehmend zu verlieren.
Blick nach vorn und nicht zurück. War das nicht immer ihr Leitspruch gewesen? Sie würde ja gern glauben, dass es ihr eines Tages gelänge, auf diese Episode ihres Lebens zurückzublicken, ohne das Gefühl, etwas Herrliches verloren zu haben. Aber das würde nicht so bald sein. Vielleicht sogar nie.
„Lyon?“ Jetzt war er wach. Sie merkte es an seinem Atem. Was wohl in seinem Kopf vorging? Etwa das Gleiche wie in ihrem? Dann hatten sie ein reichliches
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