Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
Die Portraits , am 15. stand ich bereits in der Schlange vor der Kunsthalle. Die Kuratoren hatten in Zusammenarbeit mit der National Gallery of Scotland über fünfzig Gemälde aus der ganzen Welt zusammengetragen. Es war die wichtigste Bacon-Schau seit jener im Kunsthistorischen Museum. Schon Tage vor meiner Reise hatte mich eine seltsame Unruhe erfasst, als stünde ich vor einem Treffen mit einem mir nahen Menschen, den ich lange nicht gesehen hatte, und als hinge von dieser Begegnung das weitere Geschick meines Lebens ab.
Die Ausstellung war klug konzipiert; sie folgte zwar lose den Entstehungsdaten der Gemälde, versuchte aber auch thematische Klammern zu finden. Es gab Saaltitel wie Kokon aus Farbe , Figur im Raum oder Die Tür ins Dunkle . In einem Nebenraum lief in einer Endlosschleife die Szene der Ermordung des Kindermädchens aus Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin , die Bacon zu den schreienden Mündern seiner Päpste angeregt hatte. Neben dem Bildschirm hing ein Zitat aus den Interviews mit David Sylvester:
»Ich mag das Glitzern und die Farbe, die aus dem Mund kommen, und ich habe immer irgendwie gehofft, den Mund so malen zu können, wie Monet einen Sonnenuntergang gemalt hat.«
In Glasvitrinen lag Bildmaterial vom Boden des Ateliers in der Reece Mews. Es war verblüffend, die Knicke und Risse in einigen der Fotos von John Deakin oder den aus Bildbänden herausgerissenen Velázquez-Reproduktionen, die Bacon als Vorlage gedient hatten, mit den Gemälden zu vergleichen. Manchmal hatte er die Knicke mit Büroklammern fixiert, um sie dann exakt auf die Leinwand zu übertragen. Als gingen die Risse mitten durch die Welt, und die Verformungen der Gestalten und Gesichter wären nichts als ein getreues Abbild der Wirklichkeit.
Ich ließ mich durch die Räume treiben, im Rhythmus der Besucher-Kolonnen.
Das erste Bild, vor dem ich länger stehen blieb, war das Triptychon Three Studies for a Crucifixion, 1962 , eine Leihgabe des New Yorker Guggenheim-Museums. Ich konnte mich noch an den Moment erinnern, als ich es in Wien zum ersten Mal gesehen hatte. Im Gegensatz zu den Dyer-Triptychen und den Porträts von Isabel war es mir wie ein einziges großes Rätsel erschienen.
Die linke Tafel zeigte zwei Männer, den Blick in Richtung Mitteltafel gerichtet. Der Ältere stützte seine Arme auf die Hüften – eine Geste der Empörung. Der Jüngere wandte sich bereits der Tür zu. Auf seiner Stirn war eine Knochenplatte festgewachsen, eine physiognomische Erleichterung für jemanden, der zu oft versucht, mit dem Kopf gegen Wände zu laufen. Vom Bauch abwärts steckte die Figur in einem schwarzen Gewebe, vielleicht einer Strumpfhose.
Ich sah den jungen Francis beim Anprobieren der Wäsche seiner Mutter, ich sah den entsetzten Vater und die Vertreibung aus dem Elternhaus. Der Körper, der auf der Mitteltafel auf einer gestreiften Matratze lag, war zerschmettert, aufgerissen, blutbesudelt, der Kopf halb weggesprengt; das Fleisch war vom Rest des Schädelknochens geschält worden, die Augen ausgestochen, einzig die Zähne waren unversehrt. Die aus dem Leib quellenden Eingeweide klebten in dicken schwarzen und roten Klumpen auf der Leinwand, als hätte der Maler Fetzen aus einem Tierkadaver gerissen und auf das Bild geworfen. Viehisches Gedärm, schwarzes, geronnenes Schweineblut.
Und doch war der Mensch auf diesem Bild nicht tot. Sein Oberkörper ruhte auf einem Kissen, den rechten Arm hatte er lässig hinter den zermalmten Kopf gelegt: eine nahezu entspannte Position. Ich bin , sagte dieser Mensch, von einer Reise in den Orkus zurückgekehrt, mich erschüttert nichts mehr . Kein Knurren eines Höllenhundes drang aus diesem zerrissenen Maul; es war ein orphisches Gelächter aus dem Land der letzten Dinge. Der, der hier lag, war den Weisungen der Götter nicht gefolgt, er hatte sich umgedreht, um zu schauen.
Bacon erzählte Sylvester, er habe die Three Studies for a Crucifixion binnen zwei Wochen fertiggestellt, in einer Art durchgehendem Rausch, unterbrochen nur durch heftige Katerattacken. »Manchmal wusste ich kaum, was ich tat. Es ist eines der wenigen Bilder, die ich unter Alkoholeinfluss malen konnte. Vielleicht hat das Trinken mir geholfen, etwas freier zu werden. Bei einer Kreuzigung arbeitet man mit sehr privaten Gefühlen. Nichts kommt einem Selbstporträt näher.«
Jetzt glaubte ich es also besser zu verstehen, das New Yorker Triptychon. Hunderte Seiten hatte ich seit der ersten Begegnung mit
Weitere Kostenlose Bücher