Bad Moon Rising
elegant gekleidet, hatte einen jenseitigen Blick und elfenbeinerne, reine Haut. Marco sah aus wie ein straßenmüder Penner.
»Der Verfasser des Buchs Remshi «, fuhr Marco fort, so laut, dass alle es hören konnten, »war ein sprunghafter und impulsiver Bursche. Er verleugnete sein Buch, das, so behauptete er, sowieso nur als Scherz auf seine eigenen Kosten zusammengestrickt worden sei. Von den beiden anderen, die das ursprüngliche Verb kannten, war es dem einen völlig egal, aber der andere fertigte eine eigene Kopie an und fügte das korrekte Verb wieder ein. Es gab weitere Kopien, doch wurde keine überliefert – so dachte man zumindest. Aber Vincent …« Er hielt inne … »Merryn –« und bei dem Wort »Merryn« verpasste er Remshi eine derartige Ohrfeige, dass der Vampir ins Wanken geriet, einen komischen Augenblick lang auf einem Bein stand und fast umfiel, bis Jacqueline seinen Arm schnappen konnte, um ihm Halt zu geben –, »Vincent Merryn, Gott segne seinen Fabergé-Eierkopf, hat eins davon aufgetrieben. Stellt euch das mal vor! Eine Wort für Wort korrekte Fassung des Heiligen Buches! Das lebendige Wort!«
»Oh, mein Gott«, sagte Jacqueline leise mit einer gerade- zu männlich wirkenden Stimme. »Oh, mein Gott.«
»Vincent Merryn berichtete Raphael Cavalcanti davon, und Raphael Cavalcanti, außerordentlicher Dummkopf, der er war, berichtete es der zukünftigen Königlichen Hoheit, Madame Jacqueline Delon.«
Mit Hilfe ihres Bruders war Mia Tourisheva aufgestanden, doch ihr Blick verriet, dass sie es mit einer erheblichen unsichtbaren Macht zu tun hatte. Ein kleiner Tropfen von dem rosafarbenen Schweiß, den ich schon bei Caleb gesehen hatte, tauchte auf ihrer Oberlippe auf.
»Und wisst ihr, meine kleinen Hungerleider«, fuhr Marco fort, »wisst ihr, wie das fehlende Verb lautete? Könnt ihr euch vorstellen, warum das nicht in Madames kleines Ränkespiel passte? Ihr werdet erstaunt sein, wenn ich es euch sage, ganz ehrlich.«
Mit Händen greifbare Spannung unter den Schülern. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Wände und Decke einen sichtbaren Puls angenommen hätten. Jacqueline wich vor Remshi zurück. Auf ihrem bösen hübschen Gesicht lag ein feuchter Glanz.
»Madame?«, fragte Olivia mit kleinem Stimmchen. »Ist das wahr? Werden wir sterben?«
Ich bezweifle, ob Jacqueline ihr geantwortet hätte, aber das werden wir wohl nie herausfinden, denn in diesem Augenblick brachen die Türen auf, und vier blutverschmierte Werwölfe stürzten herein.
62
SIE HABEN UNS NICHT KOMMEN RIECHEN!
Einen Augenblick lang rührte sich niemand. Es schien, als wolle das Universum alle Beteiligten dazu zwingen, ein paar Sekunden zu erübrigen und die aufrührerische Realität der Situation zu erkennen: wenig Platz; mehr als siebzig Vampire im Zustand kollektiven Schocks; fünf ausgehungerte Werwölfe.
Dann schleuderte Trish den abgerissenen Kopf der Meg-Ryan-Vampirin auf die Altarstufen, wo er mit einem unschuldig lauten Krachen aufschlug – und die kollektive Starre löste sich explosionsartig.
Ich sprang nach meinem Sohn.
Der Altar war aus weißem Granit, erfrischend kühl unter meinen Händen und Fußsohlen. Lorcans Fesseln waren Schellen, mit kurzen Kabeln an Tafeln festgemacht, die im Stein verschraubt waren: reiner Stahl. Mehr als genug, um ein Werwolfkind festzuhalten. Nicht genug, um einen ausgewachsenen Werwolf zu stoppen. Zwei, drei, vier Sekunden Widerstand – dann brach der Ring, der das Kabel der linken Hand hielt. Sofortige logische Freude: Wenn ich eine Fessel zerbrechen konnte, konnte ich das auch mit allen vier. Mich überkam eine fürchterliche schwindelnde Vision von meinem Sohn, meiner Tochter und mir in menschlicher Gestalt (Lorcans Gesicht das menschliche Antlitz, das Wolf sehen konnte, auch wenn es dem Rest von mir noch vorenthalten wurde), wie wir zusammen in einem Haus am Meer auf dem Sofa kuscheln, der Kamin brennt, der Fernseher läuft, und Cloquet kocht im Hintergrund Abendessen. Ich musste das Bild beiseiteschieben. Musste alles beiseiteschieben, außer der anstehenden Arbeit, die Kabel zu zerreißen. Nur das.
Das zweite Kabel riss. Ich griff nach dem dritten. Einzelheiten aus dem mich umgebenden Chaos fielen mir auf, ob ich wollte oder nicht. Die meisten Vampire, die führungslos und traumatisiert waren durch die gescheiterte Messe und ihren geohrfeigten Messias, wollten nur raus aus dem Raum, und die wenigen, die das nicht versuchten, bekamen die volle Wuchte der
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