Bad Moon Rising
Kläffen an.
›Tut mir leid, Kleiner. Tut mir wirklich leid.‹
»Das dauert alles zu lange«, drängte Jacqueline. »Setzen Sie sich jetzt die Spritze, sonst schießen sie.«
»Meine Brüder und Schwestern«, intonierte Remshi mit erhobenen Armen. »Das Warten war lang, doch nun endlich bricht ein neuer Tag an!«
»Blödsinn!«, rief eine männliche Stimme aus der Gemeinde.
Vampire und ihre Vertrauten waren verblüfft und drehten sich nach der Stimme um.
»Schwindel!«, rief die Stimme aus einer vollkommen anderen Richtung.
»Ruhe!«, brüllte der Priester in der Kanzel. »Wer ist das? Wer spricht da?«
»Fragt sie, warum sie Raphael Cavalcanti umgebracht haben«, sagte die Stimme wieder aus einer anderen Richtung. »Na los, fragt sie, warum sie den armen alten Vincent Merryn beseitigt haben.«
Ich sah Mia an. Ihr Blick verriet, dass dies alles nichts mit ihr zu tun hatte, was immer es auch war. Der Rest des Blickes war Hass auf mich.
»Jacqueline?«, fragte Remshi sehr leise.
Madame war sichtlich verwirrt. Sie ballte ihre kleinen Fäuste unter den Brüsten. Sicher eine Angewohnheit aus Kindertagen. Ich sah sie als kleines Mädchen vor mir, wie sie genau so vor ihren Vater stand, als der sie ausschimpfte.
»Zeig dich«, rief sie. »Zeig dich!«
»Ich soll mich zeigen? Bist du vielleicht blind?«, sagte die Stimme, und plötzlich schwebte, als alle nach oben schauten, eine Gestalt mit den Füßen voran hernieder.
61
Die Stille war zum Greifen dicht und schien auf synästhetische Weise einige Details zu betonen: die Kerzenflammen; Jacquelines Perlenohrringe; die weißgoldene Einfassung des Priesterbuchs. Bis auf meinen Sohn starrten alle den Vampir an, der nun am Fuße der Treppe stand, die zum Altar führte, und eine Zigarette rauchte .
Nach menschlichem Alter hätte man diesen schlanken, dunkeläugigen männlichen Vampir mit milchkaffeebrauner Haut und längeren, staubig schwarzen Haaren auf Anfang vierzig geschätzt. Sein Gesicht mit den vollen Lippen strahlte schimpansenhafte Schnelligkeit und Schalkhaftigkeit aus. Er hatte schöne schwarze Hände, allerdings mit dreckigen Fingernägeln. Er trug eine Fliegerjacke aus geborstenem Leder über einem weißen T-Shirt, dazu eine blassgrüne Kampfhose, die in zerschundenen Armeestiefeln steckte. Wenn sich herausgestellt hätte, dass er gerade tausend Meilen auf dem Motorrad hinter sich gebracht hatte, dann hätte das niemanden überrascht. Das hätte sein Aussehen erklärt, eine Mischung aus Erschöpfung, Überdrehtheit und Schmutz.
»Ihr Leute seid lächerlich«, sagte er. »Vollkommen lächerlich.«
›Er riecht nicht‹, dachte ich. ›Unmöglich. Aber er riecht nicht.‹ Sein Akzent war, wie Remshis, nicht zu verorten, aber ganz anders. Ich hätte schwören können, ihn schon mal gehört zu haben.
»Gib mir das«, sagte er und ging auf einen untersetzten Vampir mit Ziegenbart zu, der in der ersten Reihe stand, und schnappte sich das kleine rote Buch.
»Wer zum Teufel ist dieser Kerl?«, wollte Remshi wissen.
»›Wer zum Teufel ist dieser Kerl?‹«, äffte ihn der Neuankömmling mit hohem Falsett nach. »Na, das solltest du wohl wissen, Bubbles.«
»Es ist … er ist einer von uns«, erklärte Jacqueline. »Marco, was machst du hier?«
›Marco‹, der Vampir in der Fliegerjacke, der sich die Zigarette in den Mundwinkel geschoben hatte und die Augen gegen den Rauch zusammendrückte, blätterte durch das rote Buch. Ich sah zu Mia. Remshi hielt sie noch immer in Bann, aber seine Aufmerksamkeit hatte sich verschoben. Das wusste sie. Sie machte sich bereit.
»Ich wiederhole«, sagte Marco, »fragt sie, warum sie Raphael Cavalcanti und Vincent Merryn umgebracht haben.«
»Merryn hat für die WOKOP gearbeitet«, antwortete Jacqueline. »Das weiß jeder. Wie kannst du überhaupt nur denken –«
›Merryn arbeitete für die WOKOP, ja, aber das ist nicht alles, und das ist nicht der Grund, warum du ihn umgebracht hast, richtig, ma bichette ? Ah, hier ist es ja: Vor klez mych va gargim din gammou-jhi : ›Wenn er das Blut des Werwolfs trinkt.‹ Irgendwelche Gelehrten im Publikum?«
Der Saal blieb mucksmäuschenstill, das konzentrierte Bewusstsein der Versammlung solide. Jacqueline war außer sich. Ihr ruhiges Gesicht geriet ins Wanken.
»Linguisten? Historiker? Nein?«
»Die Übersetzung ist korrekt«, antwortete der Priester entnervt. »› Vor klez mych ‹ heißt, ›wenn er trinkt‹ und › va gargim‹ ist ›das Blut.‹ Alle hier
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